Im Selbstverständnis des Faches L-E-R stehen Fragen und Probleme der Lebensgestaltung junger Menschen. Dabei werden die Jugendlichen mit menschlichen Grunderfahrungen konfrontiert, die den Menschen auf sich selbst zurückwerfen und verunsichern. Gleichzeitig bewegen diese Erfahrungen dazu, über den Sinn des Seins und des eigenen Lebens nachzudenken. Als Option für die eigene Lebensgestaltung begegnen dem Menschen Handlungsstrategien anderer Personen. Gleichzeitig trifft er auf historische und moderne Vorstellungen vom Menschen und der Welt. Die/der Einzelne sieht sich dadurch vor die Aufgabe gestellt, auf diese Weise erfahrene Handlungsmöglichkeiten aufgrund persönlicher, aber auch kulturell-weltanschaulich-religiöser und gesellschaftlicher Wertsetzungen in ihren Folgen abzuschätzen. Dadurch öffnet sich der Blick für das Leben des Menschen im Spannungsfeld von Natur und Kultur.

Durch diese Bedingungen wird das Abwägen von Entscheidungskonsequenzen zu einer zentralen Handlung für die persönliche Lebensgestaltung.

Die in diesem Kapitel dargestellten Inhalte thematisieren das Fragen des Menschen nach sich selbst und die Beziehung des Menschen zu anderen in sechs Themenfeldern. Sie gelten für alle Bildungsgänge und können auf verschiedenen Niveaustufen bearbeitet werden. Jedem Themenfeld sind Inhaltsformulierungen und Konkretisierungen der Inhalte zugeordnet. Sie werden abhängig von der Entwicklung und der Kompetenz der Lernenden im Unterricht erarbeitet und vertieft.

Die Inhalte eines jeden Themenfeldes besitzen eine innere Progression. Sie werden ausgehend von der Bedeutung der Thematik für die Einzelne/den Einzelnen bis hin zu globalen Fragestellungen inhaltlich komplexer. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Inhalte der Themenfelder in aufsteigender Reihenfolge zu bearbeiten sind. Vielmehr sind für die Auswahl der Inhalte die Jahrgangsstufe, der Bildungsgang und auch das Interesse der Schülerinnen und Schüler ausschlaggebend. Aus diesem Grunde bilden sich in jedem Inhalt ein sozialwissenschaftlich-anthropologischer (L-Dimension), philosophisch-ethischer und moralpsychologischer (E-Dimension) sowie religionskundlicher (R-Dimension) Kosmos ab, der durch eine exemplarische Auswahl von Inhalten unterschiedlich komplex zur Sprache kommen kann. Dies wird durch die in den Konkretisierungen genannten Begriffe transparent, wie z. B. Glück, Freiheit, Selbst, Bewusstsein, Wahrheit etc. Hinter jedem dieser Begriffe stehen umfassende fachrelevante Theorien, Konzeptionen und Vorstellungen, die im Themenfeld aus den für L-E-R relevanten Dimensionen L, E und R heraus entfaltet werden. Dies bedeutet auch, dass in jedem Themenfeld die großen Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus angemessen und differenziert zur Sprache kommen.

Die Themenfelder und ihre Inhalte bieten zudem zahlreiche Möglichkeiten, Bezüge zu anderen Fächern und zu übergreifenden Themen herzustellen. Die übergreifenden Themen Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity), Interkulturelle Bildung und Erziehung, Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter (Gender-Mainstreaming) sowie Nachhaltige Entwicklung/Lernen in globalen Zusammenhängen werden insbesondere im L-E-R-Unterricht berücksichtigt. Auf unterschiedlichen Niveaus können einzelne Aspekte erneut aufgegriffen und vertieft werden.

Die einzelnen Fachlehrkräfte und die Fachkonferenzen erhalten einen thematischen Rah-men sowie verbindliche Inhalte, die sie je nach Niveaustufe und Schulprofil bei der Planung des Unterrichts und bei der Erstellung des schulinternen Curriculums berücksichtigen. Es ist Aufgabe der schulinternen Planung, die Inhalte der Themenfelder unter Berücksichtigung bildungsgangspezifischer Aspekte und den Erfordernissen der Inklusion zu konkretisieren.

Die ausgewiesenen Themenfelder werden für Schülerinnen und Schüler, die wegen einer erheblichen und langandauernden Beeinträchtigung ihres Lern- und Leistungsverhaltens sonderpädagogische Förderung erhalten oder für die sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen1 festgestellt wurde, schülerbezogen berücksichtigt. Sie werden entsprechend der Lebensbedeutsamkeit für die Schülerinnen und Schüler ausgewählt.

Die Inhalte der Themenfelder schlüsselt die Lehrkraft für ihren L-E-R-Unterricht so auf, dass ausgehend von einer exemplarisch-lebensweltlichen Situation unter Beachtung der Dimensionen des Faches der Kompetenzzuwachs der Schülerinnen und Schüler gefördert wird.

Innerhalb einer Jahrgangsstufe werden alle sechs Themenfelder in den Unterricht einbezogen. Dabei kann es jedoch in Breite, Tiefe und zeitlichem Volumen zu Unterschieden kommen. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entscheidet die Lehrkraft darüber, an welchem Themenfeld, und darin wiederum an welchen Inhalten, über einen längeren Zeitraum hinweg vertiefend gearbeitet wird. Damit wird gewährleistet, dass Schülerinnen und Schüler lebensweltliche Fragestellungen in ihrer Komplexität entfalten und Antwortmöglichkeiten mit philosophischen, religionskundlichen und soziologisch/psychologischen Theorien, Modellen und Methoden entdecken können. Zugleich ist es so möglich, präziser an Überschneidungen der Themenfelder zu arbeiten, ihren Zusammenhang und ihre Verschränkung in der Welt und im Leben herauszuarbeiten, den Unterricht zu öffnen und durch selbstgesteuertes Lernen Schülerinnen und Schülern den Raum zu geben, individuelle Antworten auf gemeinsam gestellte Fragen zu erhalten.

Die individuelle Vielfalt der Lernenden im Hinblick auf persönliche, soziokulturelle und ethnische Hintergründe sowie unterschiedliche Lebensformen ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Planung des Unterrichts. Diese knüpft konsequent an die Realität der Schülerinnen und Schüler an und bezieht dabei die kulturellen Erfahrungen von Lernenden ein. Damit fördert der Unterricht die Stärken unterschiedlicher Persönlichkeiten und nutzt diese für das individuelle Lernen ebenso wie für die Demokratiebildung in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft. Die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, unabhängig von ethnischer und kultureller Herkunft, sozialem und wirtschaftlichem Status, Geschlecht und sexueller Orientierung, Alter und Behinderung sowie Religion und Weltanschauung, bildet sowohl die Basis für die Unterrichtspraxis als auch einen zentralen Inhalt im Sinne des inklusiven Lernens.


1In Brandenburg sind diese Schülerinnen und Schüler dem Bildungsgang Förderschule Lernen gemäß §30 BbgSchulG zugeordnet.

Unterrichtsleitende Prinzipien

Lebensweltlicher Zugang als Türöffner des L-E-R-Unterrichts: Fragen und Probleme gegenwärtiger und zukünftiger Lebensgestaltung von jungen Menschen bilden den Gegenstand des Faches. Daher stellen jugendrelevante Ereignisse und Erfahrungen aus der Lebenswelt der Lernenden den Ausgangspunkt jeglichen Lernens in Fach L-E-R dar. Von einem exemplarischen, realen oder fiktivenlebensweltlichen Ereignis aus werden die Fragen, Probleme und Widersprüchlichkeiten gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entwickelt und erst in einem zweiten Schritt mögliche Inhalte abgeleitet, anhand derer eine Entwicklung der Partizipationskompetenz ermöglicht werden soll.

Pluralität: Die bestehende Vielfalt und der tatsächliche Widerstreit von Deutungen, Positionen und Überzeugungen im Rahmen eines Themas müssen in der unterrichtlichen Bearbeitung exemplarisch ihren Niederschlag finden und der Analyse und Bewertung durch die Schülerinnen und Schüler zugänglich gemacht werden. Lernsituationen sind daher so zu gestalten, dass die Pluralität der Interessen und die handlungsleitenden Motive deutlich werden, die einander durchaus widersprechen können. Die entstehenden entscheidungsoffenen Situationen müssen ausgehalten werden. Das ist von einer wertneutralen Beliebigkeit oder grenzenlosen Toleranz klar zu unterscheiden. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, relevanten Fragen der Lebensgestaltung nicht gleichgültig gegenüberzustehen und unter der Annahme eigener Erfahrungen, wissenschaftlicher Erkenntnisse und in Auseinandersetzung mit ethisch-moralischen Kriterien und sinnstiftenden Überzeugungen allmählich zu einer eigenen begründeten Position zu den einzelnen Fragen und Problemen finden.

Kontroversität: Fragen der Lebensgestaltung und ihrer ethisch-moralischen Beurteilung, die Bewertung der Folgen menschlichen Denkens und Handelns und religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugungen können in der Realität zu kontroversen Positionen führen. Diese Kontroversität muss sich im L-E-R-Unterricht im Zusammenhang mit konkreten Themen und unter Berücksichtigung der entwicklungspsychologischen Situation der Schülerinnen und Schüler ausdrücken und darf auch aus pädagogischen und lernpsychologischen Gründen nicht einfach ignoriert werden. Das bezieht sich sowohl auf gesellschaftliche und individuelle Fragen und Probleme der Gegenwart und Zukunft als auch auf grundlegende Wertvorstellungen. Es umfasst auch Triebkräfte menschlichen Handelns und religiöse bzw. weltanschauliche Entscheidungen. Was in der Realität kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Ihre Grenzen haben Pluralität und Kontroversität dort, wo die Würde des Menschen, die demokratischen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland oder die Menschenrechte verletzt werden.

Authentizität: Die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte und anderweitig am Unterricht beteiligte Personen sollen ihre persönlichen Überzeugungen und Werthaltungen nicht verbergen, sondern klar zum Ausdruck bringen. Lehrkräfte und eingeladene Personen sollten die Relativität ihrer Positionen deutlich machen und klarstellen, dass es zur gleichen Frage andere Positionen geben kann. Eigene Meinungen gehören zum jeweiligen Menschen und sind Ausdruck seiner Glaubwürdigkeit und Einmaligkeit. Unter der Wahrung strikter Freiwilligkeit haben sie einen wichtigen Platz im L-E-R-Unterricht. Authentizität verstanden als originale Begegnung fordert auf zur Eindrücklichkeit und unmittelbaren Konfrontation mit Orten, an denen Erfahrungen möglich sind, die für das Lernen im L-E-R-Unterricht notwendig und förderlich sind. Dazu gehören Erkundungsgänge an religiöse Orte ebenso wie der Besuch sozialer und kommunaler Einrichtungen und die Begegnung mit Repräsentanten verschiedener Einrichtungen.

Drei Dimensionen: Dem Fach L-E-R liegen grundlegende Strukturen in den drei Dimensionen Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde zugrunde. In jeder der Dimensionen werden Begriffe, Theorien und Modelle in der Sprache der jeweiligen Basisstruktur und ihrer Bezugsdisziplin(en) verwendet, wodurch der Gegenstand des Unterrichts unter einem jeweils anderen Blickwinkel erscheint. In jeder Dimension gibt es somit jeweils etwas anderes zu lernen. Daraus ergibt sich die Mehrperspektivität des Faches.

Analyse der Perspektiven: Die Schülerinnen und Schüler lernen, die den Dimensionen eigenen Sprachspiele, Begriffe, Modelle und Theorien bzw. das in den Dimensionen unterschiedliche Verständnis von auf den ersten Blick gleich scheinenden Begriffen zu differenzieren und bei der Analyse lebensweltlicher Situationen korrekt zu anzuwenden. Zugleich verstehen sie, dass ein und derselbe Unterrichtsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden und somit unterschiedliche inhaltliche Aspekte offenbaren kann.

Drei Zugangsweisen: Unter Beachtung der drei Dimensionen ergibt sich die Möglichkeit, eine lebensweltliche Situation und deren Gehalt entsprechend einer der drei hier aufgezeigten Zugangsweisen aufzuschlüsseln:

  • Ein Thema wird aus der Perspektive einer jeweils anderen Basisstruktur beleuchtet: Die ungewollte Schwangerschaft einer 14-Jährigen zum Beispiel  kann unter lebensweltlicher Perspektive betrachtet werden, indem die Veränderungen in den sozialen Beziehungen oder die Konsequenzen auf ihre eigene Lebensgestaltung (Berufsfindung etc.) analysiert werden. Die Frage, ob die Jugendliche durch eine Abtreibung schuldig für den Tod des Kindes ist, fällt in den Bereich der Ethik und der Blick auf religiöse Autoritäten und Gebote, die das Handeln leiten können, in den Bereich der Religionskunde. Jede Dimension schafft mit dem ihr eigenen Sprachspiel einen Zugang zu den Unterrichtsinhalten, obwohl die Sprachspiele zugleich ineinander verwoben sind. Die Durchdringung und die Entflechtung der Dimensionen wechseln sich bei diesem Zugang, je nach Intention, ab. Somit kann ein Kompetenzerwerb in allen drei bereichsspezifischen Partizipationskompetenzen erfolgen, aber auch der Schwerpunkt auf einen der Bereiche gelegt werden.
  • Das zweite Zugangsmodell kommt ohne eine Überschneidung der Dimension aus. So kann das Thema Religiöse Feste als Beispiel allein in der R-Dimension, das Thema Dürfen wir Tiere essen? in der E-Dimension und das Thema Sehn-Süchte in der L-Dimension bearbeitet werden. Dann wird auch der Kompetenzerwerb in der jeweils entsprechenden Partizipationskompetenz überschneidungsfrei bleiben. Die Lehrkraft sollte sich vor der Entscheidung für diese Zugangsweise fragen, ob der thematische Schwerpunkt, wenn er nur durch eine Dimension erschlossen wird, hinreichend sachgemäß bearbeitet werden kann. 
  • Das dynamischste Modell ist das der Überschneidung der drei Dimensionen. So kann das Thema Erwachsenwerden gleichzeitig unter der sozialwissenschaftlich-anthropolo­gischen L-Dimension, der E-Dimension und der R-Dimension behandelt werden. Dabei kommt es zu einer gegenseitigen Anziehung und zugleich Abstoßung der Begriffe, Konzepte und Zugänge, zu deren Ergänzung und Ineinandergreifen. An diesem Modell wird besonders deutlich, wie präzise die jeweiligen Begriffe im Kontext der Bezugswissenschaften der Dimensionen zu gebrauchen sind. Ein Kompetenzerwerb kann mit diesem Zugang in allen drei Bereichen der Partizipationskompetenz ermöglicht werden. Das Thema kann nur dann fachgerecht bearbeitet werden, wenn alle drei Dimensionen ­berücksichtigt, in ihrer Spezifik wahrgenommen und die gemeinsame Schnittmenge herausgearbeitet und deutlich gemacht werden.

Der Wahlpflichtunterricht stellt ein Angebot dar, das über den Regelunterricht hinausgeht und ihn thematisch erweitert. Er dient der Vertiefung von Fachinhalten und schafft die Möglichkeit, Fachliches und Überfachliches zu verbinden.

Grundlage für den Unterricht im Wahlpflichtfach sind die fachlichen Kompetenzbereiche. Werden weitere Fächer hinzugezogen, gilt dies für die Kompetenzbereiche aller beteiligten Fächer.

Redaktionell verantwortlich: Boris Angerer, LISUM