Kompetenzentwicklung

Auseinandersetzung mit Wert- und Sinnfragen

Menschen stellen Fragen: Wer bin ich? Was soll ich tun? Wie will ich leben? Sie fragen sich auch: Wie leben Menschen mit unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Werthaltungen in einer Gesellschaft zusammen? Warum gibt es überhaupt verschiedene Weltsichten und Daseinsorientierungen?

Für die Heranwachsenden entwickeln sich daraus Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis und dem anderer Menschen sowie Fragen zur Klärung eigener und fremder Lebensperspektiven. Diese Fragen und deren lebensweltliche Verknüpfungen sind Gegenstand des Unterrichts im überkonfessionellen Schulfach Lebensgestaltung-Ethik-Religions­kunde (L-E-R). Werden solche Fragen nicht gestellt, bietet der L-E-R-Unterricht die Möglichkeit, diese anzuregen.

Der Erschließung der Inhalte in L-E-R dienen primär jugendrelevante Schlüsselprobleme und lebensrelevante Grundsatzfragen. Die Phänomene der Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler bilden somit den Ausgangspunkt des L-E-R-Unterrichts.

Sie werden einer mehrperspektivischen Analyse, einer Reflexion unterzogen, rekonstruiert und diskursiv bearbeitet. Das heißt auch, dass die Erfahrungen und Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler nicht nur methodische Anknüpfungspunkte bilden, sondern selbst Gegenstand des Unterrichts sind. Darüber hinaus knüpft das Fach L-E-R an die Kompetenzen und Inhalte des Sachunterrichts aus der Primarstufe an.

Die Dreidimensionalität von L-E-R

Die drei Dimensionen Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde konstituieren und strukturieren das Fach in Verbindung mit den Inhalten grundlegend.

Als Dimensionen sind sie

  • ­drei eigenständige inhaltliche Bereiche, die nicht gegenseitig austauschbar sind,
  • ­drei Perspektiven für jeweilige Erschließungsweisen der Inhalte im Unterricht.

Der Buchstabe L steht dafür, Fragestellungen und Probleme der Lebenswelt im Spannungsfeld zwischen einem gelingenden Leben und der Möglichkeit eines Scheiterns zu betrachten. Der Inhaltsbereich knüpft an anthropologische, soziale und psychologische Theorien, Wissensbestände und Methoden an.

Für den L-E-R-Unterricht heißt das, Herausforderungen bei der Gestaltung sozialer Beziehungen, der Identitätsfindung, der Selbsterkenntnis und Selbstveränderung und Probleme bei der Bewältigung von Misserfolgen zu untersuchen und Lösungsansätze zu erarbeiten.

Der Buchstabe E steht dafür, Fragestellungen und Probleme des Handelns aus moralischer Sicht zu untersuchen. Das heißt, Phänomene der Lebenswelt im Spannungsfeld zwischen der Erhaltung eines moralischen Regelsystems und der Ausbildung eines ethischen Bewusstseins zu betrachten. Der Inhaltsbereich knüpft in erster Linie an ethische, philosophische und moralpsychologische Theorien, Wissensbestände und Methoden an.

Im L-E-R-Unterricht machen sich die Schülerinnen und Schüler ihre persönlichen Werte bewusst. Sie lernen, diese zu überdenken, zu überprüfen und daraus für ihr eigenes Leben Schlüsse zu ziehen. Im ethischen Diskurs wechseln sie die Perspektiven, erwägen die Folgen von Handlungen, indem sie Handlungsalternativen zur Sprache bringen, und begründen ihre moralischen Urteile.

Der Buchstabe R steht dafür, Fragen nach dem Religiösen im Spannungsfeld zwischen Aufgeschlossenheit, Gleichgültigkeit oder Ablehnung gegenüber Religionen zu betrachten. Der Inhaltsbereich knüpft an religionswissenschaftliche, religionsphilosophische, religiös-ethische, weltanschauliche, sinnstiftende Theorien und gelebte Religion an.

Im L-E-R-Unterricht erwerben die Schülerinnen und Schüler religionskundliches Grundwissen und werden befähigt, religiöse Bezüge herzustellen, die für das Verstehen der eigenen sowie für sie fremder Kulturen bedeutsam sind. Sie lernen, Religiosität als Feld grundlegender Erfahrungen und Vorstellungen einzubeziehen.

Fachdidaktische Umsetzung

Über die drei Dimensionen Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde werden lebensweltliche Phänomene der Schülerinnen und Schüler erschlossen. Alle drei Dimensionen übernehmen einen gleichberechtigten Part in diesem Erschließungsprozess.

Partizipationskompetenz als Kernkompetenz des Faches L-E-R

Partizipationskompetenz wird in einem weiten Sinne als die Fähigkeit verstanden, in einem bestimmten Kontext Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und umzusetzen. Dafür ist der Erwerb von Orientierungswissen nötig. Bei der Klärung eigener Lebensperspektiven kommt der Partizipationskompetenz eine zentrale Rolle zu. In gesellschaftlichen Diskursen wird Partizipation als Anspruch verstanden, sich an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen zu können. Hier und in anderen Bereichen sind für die Entscheidung zur Beteiligung sowohl Orientierungs- als auch Handlungskompetenz nötig. Der L-E-R-Unterricht bahnt selbstbestimmte Entscheidungen und Handlungen der Schülerinnen und Schüler für die eigene Lebensgestaltung an.

Widerspiegelung der drei Dimensionen L, E und R in der Partizipationskompetenz

Lebensgestalterische Partizipationskompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, Handlungsmöglichkeiten zur selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Lebens zu finden, zu
prüfen und umzusetzen.

Ethische Partizipationskompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, sich aktiv an der Diskussion ethisch-moralischer Fragestellungen beteiligen zu können und in Konfliktsituationen Entscheidungs- und Handlungsoptionen zu erkennen, zu prüfen und anzuwenden.

Religionskundige Partizipationskompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, auf der Basis reflexiver Selbstvergewisserung zu religiösen Fragen und Problemen mit Angehörigen von Religionen und Weltanschauungen zu kommunizieren und in interreligiösen und transkulturellen Situationen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, zu prüfen und auszuführen.

Wahrnehmen und beschreiben

Die Schülerinnen und Schüler

  • ­nehmen Phänomene der Lebenswelt, das eigene Ich sowie eigene und fremde Emotionen und Gefühle wahr, erkennen und beschreiben diese.
  • ­identifizieren und beschreiben problemhafte, persönlich und gesellschaftlich relevante ethisch-moralische Situationen.
  • ­erkennen und beschreiben religiöse Phänomene, interreligiöse Überschneidungs­situationen und mögliche Ursachen von interkulturellen/interreligiösen Missverständnissen und Konflikten.

Deuten

Die Schülerinnen und Schüler

  • ­erschließen, deuten und interpretieren eigene und fremde Lebensentwürfe, Sinnkonstruktionen, Handlungen, Emotionen und Gefühle.
  • ­interpretieren und hinterfragen den ethisch-moralischen Gehalt von Handlungen, Situationen und Szenarien und unterziehen diese einer subjektiven Bewertung.
  • ­formulieren, erklären und hinterfragen die Bedeutung und Funktion religiöser Motive in Bildern, Texten, Symbolen etc. in ihrer spezifisch konfessionellen Hermeneutik sowie unter religionswissenschaftlicher Betrachtung der Quellen.

Argumentieren und urteilen

Die Schülerinnen und Schüler

  • ­nehmen reflektierte Haltungen zu Lebensentwürfen ein und vertreten diese, sie beurteilen lebensgestalterische Handlungsoptionen und Entscheidungen, reflektieren eigene Lebensentwürfe und setzen deren Gelingen in Bezug zu Normen und Verpflichtungen.
  • ­analysieren ethisch-moralische Situationen und Szenarien, nehmen zu ihnen einen reflektierten Standpunkt ein und vertreten ihn argumentativ, auch aus der Position eines anderen.
  • ­analysieren (inter-)religiöse Fragen und Probleme und nehmen zu ihnen einen reflektierten Standpunkt ein, indem sie Hypothesen zur Sinngebung und Weltdeutung aus der Perspektive der beteiligten Akteure formulieren und überprüfen.

Kommunizieren und interagieren

Die Schülerinnen und Schüler

  • ­formulieren Vorstellungen vom eigenen und kollektiven Leben, kommunizieren Inter­aktionsmöglichkeiten und üben sich darin, ihren Lebensvorstellungen und -gefühlen emotional und rational Ausdruck zu verleihen.
  • ­formulieren ihre Position zu ethisch-moralischen Problemen und vertreten diese insbesondere in Wertklärungen und Dilemmadiskussionen bewusst und konstruktiv. Sie nehmen die Perspektive anderer Diskursteilnehmer ein und artikulieren diese.
  • ­führen mit Angehörigen verschiedener Weltanschauungen und Religionen respektvoll interkulturelle Diskurse, vergewissern sich reflexiv des eigenen Selbst im Hinblick auf weltanschauliche, religiöse bzw. letzte Sinnfragen und nehmen dabei die Perspektive des anderen ein. Sie erkennen weltanschauliche und religiöse Differenzen an.

Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer

Zulassen von Kontroversität und Pluralität

Fragen der Lebensgestaltung und ihre ethisch-moralische Beurteilung, die Bewertung der Folgen menschlichen Denkens und Handelns und Fragen religiöser bzw. weltanschaulicher Überzeugungen führen in der Realität zu kontroversen Positionen. Was in der Lebenswirklichkeit kontrovers ist, muss auch im Unterricht als Kontroverse wiederkehren.

Daraus ergeben sich unterrichtliche Herangehensweisen, in denen die unterschiedlichen und z. T. auch einander widersprechenden Interessen, Motive und Entscheidungen von Menschen für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar werden. Gleichzeitig sollen die vielfältigen Sichtweisen der Lernenden zur Sprache kommen dürfen. Pluralität zuzulassen heißt auch, offene Situationen auszuhalten, ohne zwingend Entscheidungen zu treffen.

Neutralität heißt nicht Standpunktlosigkeit

L-E-R wird bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet. Das bedeutet
jedoch nicht Standpunktlosigkeit und Wertneutralität.

Die Lehrerinnen und Lehrer machen sich ihre eigene Haltung zu den thematisierten Fragen und Problemen bewusst und reflektieren diese verantwortungsvoll. Sie verdeutlichen ihren eigenen Standpunkt und machen ihn transparent, indem die Position der Lehrerin/des Lehrers als eine von verschiedenen möglichen Stellungnahmen dargestellt wird.

Auch im L-E-R-Unterricht gilt das Überwältigungsverbot.

Den Orientierungsrahmen des Faches stellen die Menschenrechte dar. Sollten die darin verankerten Werte im konkreten Unterricht verbal in Frage gestellt oder durch Handlungen verletzt werden, so sind die Lehrerinnen und Lehrer zu schützendem Eingreifen verpflichtet.

Umgang mit Emotionalität

Emotionen haben einen besonderen Platz im L-E-R-Unterricht aufgrund der emotionalen Besetztheit lebensweltlicher Themen. Sie sind im Rahmen dessen, was Lehrenden und Schülerinnen und Schülern zugemutet werden kann, legitim, wobei zu beachten ist, dass sie weder einfach ausgelebt noch rational beiseite geschoben werden. Sie werden immer reflektiert und auf ihren sachlichen Zusammenhang zum Thema überprüft.

Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer

Die Lehr- und Lernverfahren werden so gewählt, dass die Ziele des Faches umgesetzt werden. Deshalb sind offene Lernverfahren, diskursive, problemlösende, auch projektorientierte Unterrichtskonzeptionen sowie erfahrungsbezogene Herangehensweisen zentrale didaktische Prinzipien des L-E-R-Unterrichts.

Dem Fachkonzept entsprechend schaffen die Lehrerinnen und Lehrer eine aufgeschlossene Unterrichtsatmosphäre. Dieses gelingt auf der Basis von gegenseitigem Respekt und Vertrauen aller am Unterricht Beteiligten. Der Respekt vor der psychischen und existenziellen Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler genießt Vorrang vor den sachlichen Aspekten und Notwendigkeiten des Themas.

Dieses Grundprinzip des Unterrichts aufzubauen und immer wieder einzufordern ist besonders im L-E-R-Unterricht Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer.

Redaktionell verantwortlich: Boris Angerer, LISUM