Das Zeitungsviertel 1933 – Kommentare zur Machtübergabe
von Christoph Hamann
Man sieht, was man weiß. Dieser Leitsatz aller Stadtführer ist weitgehend außer Kraft gesetzt, wenn es um das alte Berliner Zeitungsviertel in Mitte und Kreuzberg geht. Man kann bestenfalls viel wissen. Das wenige heute noch Sichtbare ist ein kärglicher Rest einer großen Vergangenheit. Dies hat vor allem mit dem 3. Februar 1945 zu tun, an dem um die Mittagszeit in 90 Minuten rund 1000 amerikanische Bomber die Gegend zwischen dem heutigen Mehringplatz und der Leipziger Straße in Schutt und Asche legten.
Die publizistische Vielfalt der Jahre vor 1933 bleibt bis heute unerreicht. 1932 erschienen in Berlin 39 Tageszeitungen, so viele waren es 1989 in der gesamten DDR. Zu diesen Tageszeitungen kamen außerdem noch 32 Zeitungen für die Berliner Bezirke. Das Herz der Zeitungsstadt Berlin schlug in der Zimmerstraße, der Kochstraße und den angrenzenden Straßen. Hier hatten die drei Großen des Berliner Verlagsgeschäftes ihre Sitze: die Verlage Mosse, Ullstein und Scherl.
Die Zentren der Macht
Warum siedelten sich die Zeitungsverlage gerade hier an? Zeitungen verarbeiten Neuigkeiten, in erster Linie aus der Politik. Und die Zentren der politischen Macht lagen nicht weit: die Wilhelmstraße mit ihren Ministerien und dem Reichskanzleramt als Ort der Exekutive und der Reichstag als Ort der Legislative. Der reibungslose und schnelle Vertrieb der eigenen Zeitungen in Berlin verlangte außerdem, dass die Ausgabestelle der Zeitungen ungefähr im Mittelpunkt des gesamten Groß-Berliner Bevölkerungskreises lag.
Arbeitsanregungen
Die einmal getroffene Entscheidung für einen Standort band die Verlage zudem an diesen Ort. Eine bauliche Erweiterung der Zeitungsverlage konnte nur in der Innenstadt geschehen, da es aus Zeitgründen nicht möglich war, die Redaktion vom Druck, die Verwaltung von der Anzeigenannahme zu trennen. Das heißt, die Verlage waren an das Zentrum gebunden. Schließlich: Durch ein Gesetz von 1852 waren die Verlage gezwungen, ihre Zeitungen für auswärtige Kunden mit der Post zu versenden. Das Postamt für diesen Fernversand lag in der Nähe der Verlage.
Verlag August Scherl
Auf dem heutigen Gelände des Springer-Verlages befand sich vor 1945 der Scherl Verlag. August Scherl (1849-1921)* hatte sich schon als Verleger von Groschenromanen, als Betreiber einer Rollschuhbahn und als Theaterdirektor versucht, ehe er 1883 mit dem Berliner Local-Anzeiger erfolgreich die Berliner Zeitungsbühne betrat. Als parteilose Zeitung für den kleinen Mann bot sie neben Sensationen und Unterhaltendem einen ausgeweiteten Lokalteil. Eine „Zeitung, die jedem etwas und den meisten alles bot, die schnell, umfassend und unterschiedslos berichtete, die keine Meinung, keinen Charakter, kein Gesicht hatte, die sich für niemand einsetzte außer für sich selbst, die keinen anderen Zweck verfolgte, als möglichst viele Inserate zu bringen und möglichst hohe Auflagen zu erzielen“ (Mendelssohn 1982, S. 121). Der Berliner Local-Anzeiger wurde zum Vorbild der Generalanzeiger-Presse, die scheinbar parteilos, tatsächlich jedoch kaiser-bzw. regierungstreu berichtete. Damals ungewöhnliche Methoden sicherten seinen Geschäftserfolg. Fortsetzungsromane, deren Spannungshöhepunkte am Monatsende lagen, verhinderten Abbestellungen. Einen ähnlichen Effekt hatten Reklame, die Rubrik „Öffentliche Meinung“, Sprechstunden etc. Der chronisch verschuldete Scherl musste 1914 den Verlag abgeben. 1916 wurde er vom Deutschnationalen Alfred Hugenberg (1865-1951)* gekauft. Dieser machte die Zeitung Der Tag (siehe Kommentar 1933) zur politischen Plattform seiner Deutschnationalen Volkspartei.
Axel Springer-Verlag
Der nördliche Teil der Lindenstraße wurde vor wenigen Jahren in Axel-Springer-Straße umbenannt. Mit dem Bau seiner Verlagszentrale 1966 besetzte Axel C. Springer (1912-1985)* den Raum des alten Berliner Zeitungsviertels nicht nur örtlich, sondern auch ökonomisch und politisch. Wo vor 1945 die Großen des Berliner Verlagsgeschäftes Mosse, Ullstein und Scherl um Groschen und Gesinnung des Lesers konkurrierten, existierte nach 1945 vor allem Springer. Von seinen Vorgängern Scherl übernahm er das Grundstück und die konservative Haltung, von Ullstein den traditionsreichen Namen und die Orientierung am Geschmack des breiten Publikums. Der Axel Springer-Verlag verlegt heute das Boulevardblatt Bild*, die Berliner Morgenpost* und die Welt*.
Druckverlag Rudolf Mosse
Von der Lindenstraße aus überblickt man ein Brachgelände und sieht an der Ecke Schützen-und Jerusalemer Straße ein Gebäude, das sowohl in presse- als auch in baugeschichtlicher Hinsicht von Bedeutung ist. An der Fassade Schützenstraße gibt ein Relief mit dem Drucker-Vogel Greif Aufschluss. Zu lesen ist die Inschrift: „Berlin Druckverlag Rudolf Mosse, gegründet 1871“.
Der Weg Rudolf Mosses (1843-1920) zum Zeitungsverleger in der Reichshauptstadt Berlin führte nicht über den Journalismus oder die Politik. Der Kaufmann hatte vielmehr die ökonomischen Grundlagen des heutigen Zeitungsgewerbes geschaffen: das Geschäft mit den Anzeigen. Bis 1850 gab es ein staatliches Anzeigenmonopol, außerdem galt in der vornehmeren Geschäftswelt das Inserieren als unfein. Die Werbeeinnahmen waren gering, die Preise der Zeitungen entsprechend hoch. Mosse wurde ab 1867 mit seiner Annoncen-Expedition Mittler zwischen Geschäftswelt und Zeitungen, indem er Anzeigenkunden in ganz Deutschland akquirierte und diese den Zeitungen zuführte. Den Kunden entstanden keine Kosten, Mosse erhielt Provision von den Zeitungen. Bald hatte er über 100 Pachtblätter, deren gesamten Anzeigenteil er verwaltete. Er übernahm die Gestaltung der Anzeigen, besorgte Übersetzungen und die Vervielfältigungen für die verschiedenen Zeitungen.
1871 beschloss er, selbst eine Zeitung zu gründen, das liberaldemokratische Berliner Tageblatt*, dessen langjähriger Chefredakteur Theodor Wolff (1863-1943)* war. 1943 wurde er inhaftiert, in das KZ Sachsenhausen* eingeliefert und starb im gleichen Jahr. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee* begraben.
Der Zeitungsverband Deutscher Zeitungsverleger verleiht alljährlich einen „Theodor-Wolff-Preis“* für herausragende journalistische Leistungen. Seit 1993 trägt ein Platz in Kreuzberg den Namen von Theodor Wolff (siehe sein Kommentar 1933).
Heute befindet sich im ehemaligen Verlagsgebäude das 1995 eingeweihte Mosse-Zentrum*. (siehe dazu auch den Artikel „Der Mosse-Verlag...“ von Moritz Felgner, Station 12)
Ullstein Verlag
Heute steht an der Stelle des im Februar 1945 zerstörten Ullstein Verlags der neue Büroturm der Wohnungsbaugesellschaft GSW mit seinem elliptischen Vorbau zwischen Markgrafen-und Charlottenstraße. Seit 1881 befand sich hier das Stammhaus des vor 1933 Größten der großen Drei in Berlin. Vor allem um die Jahrhundertwende brachte Ullstein Blätter auf den Markt, die bald enormen Erfolg beim Publikum hatten. Ein Verkaufsschlager wurde die neuartig bebilderte Berliner Illustrirte Zeitung* ebenso wie die Berliner Morgenpost, die in den zwanziger Jahren auflagenstärkste Tageszeitung in Berlin war. 1904 wurde mit der BZ am Mittag* das erste deutsche Boulevardblatt geschaffen. Sie galt bald als die „schnellste Zeitung der Welt“. Nach 1933 wurde der Verlag von den Nazis enteignet – viele der Redakteure wurden entlassen, weil sie als Juden galten: so zum Beispiel Moritz Goldstein (1880-1977)* oder Monty Jacobs (1875-1945)*. Auch die Verlegerfamilie Ullstein* ging ins Ausland.
NSDAP-Parteiverlag Frz. Eher Nachf.
Nahe dem ehemaligen Checkpoint Charlie entdeckt man in der Zimmerstr. 86-89 einen Klinkerbau. Die Embleme über der Toreinfahrt in der Fassade deuten die ursprüngliche Funktion des Gebäudes an. Es werden Obst, Gemüse, Fische und eine Waage dargestellt, das rechte Relief zeigt mit der geflügelten Kappe und dem Heroldsstab die Symbole des Handelsgottes Hermes (lat. Mercurius). Die Abbildungen verweisen auf die Markthalle III, die 1884/86 hier gebaut wurde. Später wurde ein Teil des Komplexes unter dem Namen „Clou“ ein Vergnügungsbetrieb (Musik, Tanz, Kabarett). Das Konzerthaus „Clou“ war der Ort, an dem Hitler* zum ersten Mal in Berlin auftrat. Sein Redeverbot in Preußen (1925-1928) galt nicht für geschlossene Veranstaltungen. Am 1. Mai 1927 veranstaltete die NSDAP* hier eine Maikundgebung.
Hier befanden sich nach 1933 die Redaktion und die Druckerei mehrerer nationalsozialistischer Blätter wie etwa Die HJ-Zeitung, Der SA-Mann, Das schwarze Korps, der Völkische Beobachter* und – die für Berlin wichtigste NS-Zeitung Der Angriff (siehe Kommentar 1933). Ins Leben gerufen hatte diese Zeitung Joseph Goebbels*, der einige Jahre zuvor vergeblich eine Anstellung bei Zeitungen gesucht hatte, die er wenig später als „jüdisch verseucht“ beurteilte. Goebbels versuchte mit dieser Zeitung, die Parteiarbeit der im Mai 1927 in Berlin verbotenen NSDAP fortzusetzen. Außerdem suchte er für sich eine persönliche Plattform der Agitation.
Das „Clou“ war während der sogenannten Fabrikaktion* am 28. Februar 1943 eine der Sammelstellen für Juden, die in Ehen mit Menschen nicht jüdischer Abstammung lebten und zur Zwangsarbeit in Fabriken verpflichtet waren.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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