Zitat September 2005

Zitat September 2005

Zitat September 2005

"Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu befördern."    (Bertolt Brecht)

 

Dieses Zitat wird Bertolt Brecht zugeschrieben, es stammt aus einer Zeit, als er als bekannter Dichter rückblickend seine Schulzeit in Augsburg beschrieb. Leider ist eine genaue Quellennennung nicht möglich. Aber womöglich kann uns ja ein Internet-User weiterhelfen.

 

Was ist das Besondere an diesem Zitat?

Es ist unglaublich kurz und verändert sofort die gewohnte Perspektive des Lesers, denn unsere Schulvorstellungen existieren für gewöhnlich genau umgekehrt. Da ist ein Schüler, dem es offensichtlich nicht wesentlich gelang, seine Lehrer zu befördern. Da ist eine Schulzeit, die aus der Perspektive eines Schülers als Eingewecktsein empfunden wird. Meine Assoziation zu Eingewecktsein ist Dunkelheit und Geschlossenheit. Ich denke an die vergilbten Einweckgläser in der zweiten und dritten Reihe im Keller meiner Großmutter, die nach neun Jahren, luftdicht und im Dunkeln gehalten, zum Teil verschimmelten und wertlos wurden. Wie glücklich bin ich dann, vom Selbstbewusstsein eines Schülers zu erfahren, dem diese  gruftig anmutende Atmosphäre nichts wirklich anhaben konnte.

In einer Zeit, in der es immer populärer wird, auch die Leistungen von Lehrern durch die Schüler beurteilen zu lassen, klingt es gut, ein so klares und fundamentales Feedback eines ehemaligen Schülers, wenn auch eines sehr prominenten, für neunjährige Lehrerleistung zu lesen.

 

Wann ist mir das Zitat zuerst begegnet?

Im Dezember 1989 arbeitete ich am Nachwort zu Christa Wolfs Buch "Angepasst oder mündig, Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989". Ich suchte nach prominenten Meinungen von ehemaligen Schülern über ihre Lehrer. Doch diese Zeit war so voll von aktuellen Ereignissen, dass ich schließlich dieses Zitat in meinem Nachwort nicht verwendete. Sein Geist jedoch stöberte weiter in meinen Gedanken.

Mitte der 90er Jahre zum Beispiel, hatte ich am Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung einen Vortrag über Entwicklungstendenzen im Schulsystem zu halten. In diesem Vortrag erklärte ich die neuen Informations- und Kommunikationssysteme als die größte Provokation des staatlichen Systems Schule seit seinem Bestehen, weil - so führte ich aus - erstmals in der deutschen Schulgeschichte ein konsequenter Rollenwechsel möglich sei. Fast virtuos würden die Schülerinnen und Schüler die neuen Technologien nutzen und damit einen zum Teil erheblichen Wissens- und Könnensvorsprung gegenüber ihren Lehrern haben. Ich unterstellte in diesem Vortrag das klassische Defizitmodell des unvollkommenen Schülers, der durch die Autorität und Kompetenz des Lehrers befördert werde. Und ich erkannte in den neuen Medien die Kraft, die geeignet sei, die klassische Rollenteilung in den Schulen zu verändern. Plötzlich, mitten in der Arbeit an diesem Vortrag  erinnerte ich mich an den "kleinen Augsburger", der lange vor diesen neuen Medien, den Allmachtsanspruch des Lehrers bezweifelte.

Kürzlich begegnete ich dem Zitat wieder, als ich zur Neueröffnung unseres sachsen-anhaltinischen Partnerinstituts, dem LISA in Halle, weilte. In seinem Festvortrag mahnte uns der dortige Kultusminister, Prof. Olberts, diesen kritischen Schülerblick nicht aus dem Auge zu verlieren. So beschloss ich, dieses Zitat für diese Rubrik auszuwählen.

Ich fragte am Rande einer Konferenz in Mainz eine bayrische Kollegin nach diesem Zitat. Sie lächelte und meinte, es verginge in ihrem Bundesland keine Abiturfeier ohne dieses Zitat, vom Festredner oder Schulleiter oft vorgetragen als Koketterie, die Schmunzeln auf den Gesichtern der Zuhörer auslöst. Doch vielleicht - so denke ich - steckt hinter diesem Schmunzeln ja nichts weiter, als eine Urangst aller Pädagogen. Die Angst nämlich, tatsächlich einmal auf einen Schüler zu treffen, der in der Lage ist,  seine intellektuelle Überlegenheit so distanziert und zugleich zynisch zu artikulieren. Nicht die Distanz oder der Zynismus wäre dann das Problem, sondern das Wissen um das Ende der Macht der klassischen Pädagogik, der Macht der intellektuellen Überlegenheit des Lehrenden über den Lernenden.


Es ist offensichtlich die Genialität dieses Mannes, die mich für diesen Text,  gedanklich bis an die "Grenze der klassischen Pädagogik" treibt. Von ihm habe ich gelernt, dass das Gegenteil von einer Sache, Teil der Sache selbst ist und die Kategorien "richtig" und "falsch" keinen Unendlichkeitswert besitzen.
("Am Grunde der Moldau wandern die Steine / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag."   aus: Das Lied von der Moldau / Schweyk im zweiten Weltkrieg)

 

Was hat das Zitat mit meiner Tätigkeit als Direktor des Landesinstituts für Schule und Medien Brandenburg zu tun?

Seit dem 9. November 1992 bin ich Direktor des früheren Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg und des heutigen LISUM Bbg. In diesen 13 Jahren fühlte ich mich natürlich nie "eingeweckt" (höchstens manchmal an seltenen Tagen). Aber die Frage, ob und wann es mir gelang, jemanden wesentlich (oder auch nur unwesentlich) zu befördern, beschäftigt mich seither. Durch meine Funktion bin ich tatsächlich oft in mehreren Rollen besetzt. Als Vorgesetzter zum Beispiel gegenüber den Beschäftigten in meinem Institut und als Untergebener gegenüber meinen Chefs in der Landesregierung. Im übertragenen Sinne bin ich also Lehrer und Schüler zugleich, ich wechsle manchmal stündlich. Inwiefern es mir gelang, in der einen oder anderen Rolle jemanden zu befördern, vermag ich bis heute nicht vollständig zu beurteilen. Ich verneige mich deshalb vor dieser beeindruckenden Klarheit, mit der uns Brecht begeistert.

Vita Dr. Jan Hofmann

  • Direktor des Landesinstituts für Schule und Medien Brandenburg (LISUM Bbg)
  • Vertreter des Landes Brandenburg in der Projektgruppe "Innovationen im Bildungswesen" in der Bund-Länder-Kommission für  Bildungsplanung und Forschungsförderung
  • Dipl.-Phil.; Dipl.-Päd., Dr. phil.
  • Studium der Philosophie und Pädagogik in Berlin
  • wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsstelle "Körpererziehung" der APW
  • 1991 Promotion an der Humboldt Universität zu Berlin, Fachbereich Wissenschaftsphilosophie
  • 1990-1992 Leitungsfunktion im MBJS
  • November 1992 bis 30. Juni 2003 Direktor des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg
  • seit 1. Juli 2003 Direktor des Landesinstituts für Schule und Medien Brandenburg

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM