Zitat Februar 2013

Zitat Februar 2013

Zitat Februar 2013

„Bring den Menschen in die unrichtige Atmosphäre und nichts wird funktionieren, wie es soll. Er wird an allen Teilen ungesund erscheinen. Bring ihn wieder in das richtige Element, und alles wird sich entfalten und gesund erscheinen.“
Ludwig Wittgenstein, 18. Mai 1942

Diese Aussage habe ich in dem wunderbaren biographischen Album über Ludwig Wittgenstein gefunden, das ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe. Die für Wittgenstein thematisch ja nicht besonders typische Beobachtung hat mich jedenfalls inspiriert, darüber nachzudenken, wie dieser Einfluss auf der „Mikroebene“ funktioniert – weniger beschäftigt hat mich, was genau eine unrichtige von einer richtigen Atmosphäre unterscheidet. Da setze ich einfach, dass die wichtigsten Bestandteile des „Elements“ oder der „Atmosphäre“, die Wittgenstein beschreibt, wir sind: die anderen Menschen um den einen Menschen.

Wenn wir uns als den einen Menschen sehen, den Wittgenstein in eine unrichtige und eine richtige Atmosphäre versetzt, dann wissen wir ziemlich genau, was der Philosoph meint.

Ich kann mich erinnern, dass ich zweimal kurz nacheinander original den gleichen Vortrag zu halten hatte; das Erstpublikum war zugewandt und interessiert, konstruktiv kritisch und wohlwollend. Ich wurde immer besser, der Vortrag war logisch und intensiv. Ich überzeugte mich während des Vortrags quasi noch einmal, während ich sprach. Kurz danach, beim nächsten Mal: Die Stimmung war schlecht, ich spürte Desinteresse und Ablehnung – meiner Person, meiner Aussagen? Das Erstaunliche: Die eigene Stimme klang plötzlich in den eigenen Ohren nicht mehr überzeugend. Es erschien mir jetzt selber als Zumutung, mir zuhören zu müssen. Was hatte ich hier eigentlich zu suchen? Plötzlich benahm ich mich genau so, wie die anderen mich sahen, und bestätigte die Blicke, die mich trafen. Meine Überzeugungen und Gefühle änderten sich wirklich unter dem Blick der anderen. Als ich das zum ersten Mal bewusst erlebte, schien mir eine unfassbare Zauberkraft zu wirken. Inzwischen kenne ich das Phänomen und bin abgehärtet, man könnte auch sagen, „desensibilisiert“. Vielleicht heißt das sogar: “professionell“ geworden?

Auch habe ich viel darüber gelesen und gelernt, wie elementar die Sicht der anderen auf uns für unser Selbstbild ist, ja, man könnte sagen, sie ist dessen Ursprung. Nehmen wir als  Beispiel die Affektspiegelung bei Babys in den ersten Lebensmonaten: Von Beginn an bilden wir als Bezugspersonen, wie Entwicklungspsychologen sich ausdrücken, mit den Babys ein „affektives Kommunikationssystem“. Ab dem zweiten Lebensmonat beginnen sie mit uns und wir mit ihnen Gefühle – im wahrsten Sinne des Wortes – zu teilen. Wir spiegeln positive und auch negative Emotionen durch unseren Gesichtsausdruck dem Kind zurück. Wenn ein Baby lächelt, lächeln wir zurück; wenn ein Baby traurig oder ängstlich schaut, blicken wir es auf ähnliche Weise an. Paradox daran ist, dass wir auch dann, wenn wir ein negatives Gefühl mimisch spiegeln, erfolgreich trösten. Dass wir durch den Ausdruck eines negativen Gefühls dem Baby helfen, sein Gefühl zum Positiven zu regulieren, liegt daran, dass wir unser Spiegeln „markieren“, indem wir den Gefühlsausdruck übertreiben und damit seinen Als-Ob-Charakter verdeutlichen. Das können die Babys offenbar interpretieren. Sie sind in der Lage zu erkennen, dass wir ihren eigenen Gefühlszustand spiegeln; sie entkoppeln das ausgedrückte Gefühl von uns als Person und schreiben es sich selbst zu. Erst dadurch, dass sie uns ansehen, fühlen sie, wie sie sich fühlen.

Ein anderes Beispiel ist das soziale Rückversichern, das sich gegen Ende des ersten Lebensjahres entwickelt: Babys, die sich in einer für sie unklaren Situation befinden (sie müssen an einem Hindernis vorbei, um zur Bezugsperson zu kommen), nutzen zur Entscheidungsfindung aktiv den emotionalen Gesichtsausdruck, den wir als ihre Bezugspersonen haben: Sie orientieren sich in ihrem Verhalten an der in unserem Gesicht sichtbaren emotionalen Bewertung der Situation. Sie krabbeln los, wenn wir sicher und ermutigend schauen, und halten inne, wenn wir eher warnend oder ängstlich aussehen. Wenn wir ihnen zutrauen, dass sie es schaffen, dann trauen sie es sich selber auch zu. Misstrauen wir, fehlt das Selbstvertrauen. All das  funktioniert ohne Worte.

Und das gilt natürlich auch später noch: Wir, die Erwachsenen in Schulen und Kitas, bewirken mit unserem Blick auf die Kinder, wie sie sich selber sehen. Je differenzierter wir ein Kind im Blick haben, mit seinen individuellen Stärken und Schwächen, desto genauer und besser können wir es in seinen Bildungsprozessen unterstützen. Und natürlich ist es im Prinzip denkbar, dass wir den Leistungsstand eines Kindes genauestens im Blick haben, das, was es gut kann, und das, was es noch nicht so gut kann, ohne dass wir es in unserem Bewertungsraster (das, in dem wir selbst gesehen werden / uns sehen) verorten und „labeln“ und damit seine Selbstsicht prägen.

Wenn ich mir allerdings anschaue, wie skeptisch und auch ängstlich wir selber darauf reagieren, wenn jemand uns genau so anschauen will, unsere individuellen Stärken und Schwächen, damit er uns in unserem Entwicklungsprozess unterstützen kann, dann merke ich, dass wir von solchem Blick oft nichts Gutes, Ermutigendes erwarten. Und wer von einem solchen Blick nichts Gutes erwartet, tut das deshalb nicht, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie man mit solchem Blick Menschen sieht. Es mag  sein, dass wir durch die Schärfe des Blickes auf die Kompetenzstände der Kinder, durch eine vermeintlich realistische Sicht, das Zutrauen in die Fähigkeiten vieler von ihnen eher verlieren. Das ist ein Dilemma: Denn wir sehen am Ende, wenn wir auf das Kind schauen, unseren Blick auf das Kind – leibhaftig!

Was können wir da tun?

Wir  könnten eher unscharf und daher wohlwollend blicken. Das ist sicher nicht das Schlechteste. Oder wir ändern nicht die Schärfe des Blickes, sondern die Blickrichtung. Wir ändern, der Wirkung des eigenen Blickes eingedenk, den Fokus, auf den wir schauen: Was in unserem Gut/Schlecht-Bewertungssystem nicht so fest verortet ist und deshalb nicht so bewertungsanfällig ist wie unterschiedliche Kompetenzen von Menschen, sind ihre unterschiedlichen Themen, Fragen oder Interessen. Wenn jemand mich in den Blick nimmt und sich fragt: Was will sie eigentlich genau? Was interessiert sie besonders? Was motiviert sie und welche Fragen stellt sie sich gerade? Was interessiert sie gar nicht? – wenn dies alles der Blick auf mich erkundet, so ist das eben anders, angenehmer, es ermutigt und unterstützt, eröffnet eine ganz andere Dimension, als wenn mein Gegenüber sich fragt: Was genau kann sie und was nicht?

Auf diese motivationalen Aspekte wird in guten Kitas weltweit mit elaborierten Instrumenten systematisch geschaut. Was die Kinder aktuell interessiert, an welchen Themen sie arbeiten und was sie von sich aus tun, wird zum Ausgangspunkt von pädagogischem Handeln und von Kompetenzentwicklung.

Ich empfinde diesen Blickwechsel als „kopernikanische Wende“ in der Sicht auf andere Menschen – vor allem, weil er uns hilft, trotz der oft wenig ermutigenden Erfahrung mit Blicken anderer, die auf uns selbst ruhen, die richtige Atmosphäre für andere zu sein.


Dr. Frauke Hildebrandt

Dr. Frauke Hildebrandt

  • 1969 geboren, verheiratet, 4 Kinder
  • Studium der Publizistik, Geschichte, Hungarologie und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, der Freien Universität Berlin und an der Loránd-Eötvös-Universität in Budapest.
  • 2007 Doktor der Philosphie
  • 2005 -2007
    Programmleiterin bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung im Bereich “Frühkindliche Bildung”.
  • Seit 2011 pädagogische Leiterin des innovativen Fortbildungszentrums „Forscherwelt Blossin“
  • Am LISUM Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Gorbiks-Transfer (Übergangsgestaltung von der Kita in die Grundschule)
  • Seit Wintersemester 2012/2013 Vertretungsprofessorin an der FH Potsdam im Studiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“

Hinweis

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Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM