Zitat September 2007

Zitat September 2007

"Lehren heißt, ein Feuer entfachen, und nicht, einen leeren Eimer füllen."   Heraklit


Jeder, der schon einmal versucht hat, ein Feuer anzuzünden, weiß, dass das nicht so leicht ist. Man braucht trockenes Holz, vielleicht Papier oder Späne und eine Flamme. Nicht immer gelingt es gleich, es ist Geduld und Geschick erforderlich.
Für das Lernen und Lehren benötigt man ebenfalls bestimmte Hilfsmittel und Bedingungen.
Ohne die Bereitschaft eines Menschen, sich Lesen, Schreiben und Rechnen anzueignen, wird der Funken nicht überspringen. Die Kunst des Pädagogen liegt nun darin, diese Bereitschaft didaktisch aufzunehmen und das Feuer des Lernens zu entfachen.
Welche Schwierigkeiten manchmal auf dem Weg zum Lernen bewältigt werden müssen, soll die folgende Begebenheit aus meiner persönlichen Erfahrung verdeutlichen.

„Gut, dass Sie schon da sind“, sagt meine programmverantwortliche Mitarbeiterin in der VHS, als ich das Büro betrete. Am Tisch sehe ich eine Frau mittleren Alters mit einer Trainingsjacke sitzen. Ihre langen dunklen, mit blonden Strähnchen durchsetzten Haare lassen das nach unten geneigte Gesicht kaum erkennen. Ich setze mich zu ihr. "Mein Name ist Thomas Waldstein", sage ich und reiche die Hand. Nach einem kurzen Schütteln verschränkt sie wieder beide Arme und zieht sie dicht an sich heran. Die anwesende Familienhelferin dieser neuen Kandidatin für unseren Kurs "Lesen, schreiben, miteinander reden" beginnt, mir die Geschichte dieser Frau zu erzählen. Frau P. ist 51 Jahre, hat Kinder und ist neu in der Stadt. Bis vor Kurzem besuchte sie einen anderen Alphabetisierungskurs und möchte, dass es jetzt hier weiter geht. Plötzlich sagt Frau P.: "Jetz bekomm ick schon wieda Angst, mene Hände zittan, ick bin so uffjerecht." Mit ruhiger Stimme sage ich zu ihr, dass das doch ganz normal ist, aufgeregt zu sein und das ihr das auch zusteht. Schließlich ist sie in einer neuen Stadt, in einer neuen Schule und wird neue Leute kennen lernen. Ich frage Frau P. nach ihrer neuen Wohnung und nach dem alten Kurs, wie das da so war. Und so kommen wir ins Plaudern und verabreden ein Schnuppern im Unterricht.
Frau P. sitzt zum nächsten Termin im Kurs. Wir feiern den Geburtstag eines anderen Teilnehmers. "Thomas, kann ick nen Kaffee haben?", fragt mich Frau P. Das Geburtstagskind gießt ihr ein. Dabei kommen alle elf Leute ins Reden, man lernt sich kennen. Wir schreiben an diesem Tag Karten mit Wünschen. Für mich als Kursleiter ist es der gegebene Anlass zu sehen, wie Frau P. schreiben und lesen kann. Stolz zeigt sie mir ihre Mitschriften aus dem alten Kurs. Ein ganzer Hefter voller beschriebener Blätter und Kopien. Ich zeige auf zwei, drei Wörter und frage: "Können Sie das lesen? Was steht hier?" Frau P. zuckt mit den Schultern und meint: "Is zu lange her, weeß ick ne mehr."
Frau P. schreibt mit großen geschwungenen Buchstaben auf eine Karte: "Alle guten Wünsche". Ich werte das, indem ich zur ihr sage: "Sie haben eine schöne Handschrift, ich kann alles auf der Karte lesen". Zufrieden schmunzelt sie und ich erkenne, dass es Wörter gibt, die meine neue Teilnehmerin schreiben kann und mit denen sie weiter arbeiten wird.
Wir wissen, dass es ein weiter, steiniger Weg ist. Auf den ersten Schritten haben wir ein Gefühl füreinander gefunden.
In der nächsten Woche setzt sich Frau P. wieder neben mich. Das scheint jetzt ihr Platz zu sein.
Sie sieht Bilder. Auf einigen sind ein Igel, eine Klammer und eine Gabel zu sehen. Wir versuchen, gemeinsam diese Wörter zu schreiben, später dann vor der Gruppe zu lesen. Dabei sieht sie mich erwartungsvoll mit ihren dunklen Augen an.

Dem Teilnehmer respektvoll begegnen, ihm Angst nehmen, den Menschen ernst nehmen, die persönlichen Grenzen aufspüren und individuelle Lernziele formulieren, eine angenehme Umgangsatmosphäre schaffen und Erfolgserlebnisse ermöglichen, das sind die Bedingungen und Hilfsmittel, die hier zum Lernen führen.
Ein leerer Eimer ist schnell gefüllt. In diesem Fall mit Buchstaben, Silben und Wörtern. Doch wie schnell kippt er um und ist wieder leer. Das Feuer des Lernens zu zünden und am Brennen zu halten ist das große Ziel und die noch größere Herausforderung.
Lehren bedeutet also nicht nur, möglichst viele Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, sondern hauptsächlich einen Lernprozess in Gang zu setzen, der auch dann noch Bestand hat, wenn ihn der Pädagoge nicht mehr begleitet.

 


Weiterführende Informationen zum Thema "Grundbildung für Erwachsene" finden Sie im Weiterbildungsportal des Brandenburgischen Bildungsservers (BBS).

Am 8. September wird mit dem Welttag der Alphabetisierung jedes Jahr daran erinnert, dass es in vielen Ländern immer noch ein Privileg ist, lesen und schreiben zu können. Die UN-Weltdekade der Alphabetisierung (2003-2012) der UNESCO verfolgt das Ziel, die Analphabetenrate bei Erwachsenen um die Hälfte zu reduzieren.



 

Vita Thomas Waldstein

  • geb. 1971 in Eberswalde
  • Werkzeugmacher
  • Studium Werkstofftechnik
  • Heilerziehungspfleger
  • Familienhelfer
  • seit 2000 Stütz- und Förderlehrer für jugendliche Rehabilitanden im Berufsbildungswerk im Oberlinhaus gGmbH (Potsdam)
  • seit 2003 Dozent für Alphabetisierung/Grundbildung an der VHS
  • Projektmitarbeit Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bonn (Berufsorientierte Grundbildung/Alphabetisierung)
  • Berufung in die Expertenkommission des MBJS Brandenburg: "Modularisierte Grundbildungsangebote für Erwachsene"

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM