Theorie und Praxis
Weshalb benötige ich zum Unterrichten überhaupt ein theoretisches Fundament? (Verhältnis von Theorie und Praxis des Unterrichtens)
Dr. Johanna Fleckenstein, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), Kiel und Dipl.-Sozw. Esther D. Adrian, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
"Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", über diesen Allgemeinplatz hat sich schon Immanuel Kant im 18. Jahrhundert geärgert. Auch heute hört man ihn in ähnlicher Form von Lehramtsstudierenden. Mit einem solchen Satz wird meist bemängelt, dass die universitäre Ausbildung von Lehrkräften ihren Fokus eher auf die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalteals auf die Schulpraxis legt. Ist diese Kritik berechtigt?
Eine Theorie wird in den empirischen Wissenschaften auf der Grundlage von Erfahrungsdaten gebildet. Sie wird fortwährend überprüft und gilt nur so lange als gute Theorie bis man sie widerlegt. So auch in der empirischen Bildungsforschung: Durch ein ständiges Hinterfragen, Kontrastieren und Überprüfen werden Theorien und Modelle im wissenschaftlichen Diskurs immer weiter verfeinert – oder eben verworfen. Doch nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Lehrkräfte haben Theorien über schul- und unterrichtsspezifische Prozesse und Phänomene. Diese sind meist geprägt von subjektiven Überzeugungen und genügen damit häufig nicht den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Theorie. So überprüfen und falsifizieren Lehrkräfte ihre subjektiven Theorien im Schulalltag eher selten.
Es stellt sich die Frage, was Lehrkräfte als Expertinnen und Experten des Unterrichtens eigentlich wissen sollten, inwiefern subjektive Theorien problematisch sind und was die Wissenschaft im Sinne der empirischen Evidenz zu einem gelingenden Unterricht beitragen kann.
Der australische Bildungsforscher John Hattie hat 2009 in seinem Buch Visible Learningden bisherigen Stand der Forschung über Einflussfaktoren schulischen Lernens zusammengefasst und damit eine zentrale Frage der Schul- und Unterrichtsforschung beantwortet: „Was wirkt wirklich?“. Spätestens seit der Veröffentlichung dieser Studie wissen wir: Was Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht tun, spielt eine große Rolle für die Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Expertise von Lehrkräften ein zentrales Thema der Diskussion über die Qualitätssicherung in der Lehrerbildung ist. Lehrkräfte sollen zu Expertinnen und Experten der Unterrichtsgestaltung ausgebildet werden, die professionelle Kompetenz auf verschiedenen Handlungsebenen aufweisen.
Das Konzept von der Lehrperson als Unterrichtsexpertin bzw. -experte entstammt dem kognitionspsychologischen Experten-Novizen-Paradigma (für einen Überblick siehe Bromme, 1992). Eine Person, die bereits erfolgreich Wissen in einem beliebigen Sachgebiet erworben hat, verfügt über spezifische Sachkenntnisse, die als Expertise bezeichnet werden. Dabei ist entscheidend, dass – im Gegensatz zum Persönlichkeitsparadigma – Expertise vermittelt und erworben werden kann. Gerade im Vergleich mit dem Novizen, also einer Person ohne Sachkenntnisse in dem entsprechenden Bereich, wird Expertise als besonders vorteilhaft gewertet.
Lehrkräfte sollen also Expertinnen und Experten des Unterrichtens sein. Was aber muss eine gute Lehrkraft alles wissen und können? Baumert und Kunter (2006) haben ein heuristisches Modell professioneller Handlungskompetenz von Lehrkräften entwickelt, das auf der Verbindung eines allgemeinen Professionsmodells mit inhaltlichen Wissensansprüchen des Lehrerberufs beruht. Daraus ergibt sich ein aus vier Facetten zusammengesetztes Modell (s. Abbildung 1), wobei sich das Professionswissen wiederum in drei Subfacetten unterteilen lässt: Pädagogisches Wissen, Fachwissen und Fachdidaktisches Wissen.
Abbildung 1: Professionswissen im Modell professioneller Handlungskompetenz nach Baumert und Kunter (2006, S. 482).
Zusätzlich zu dieser inhaltlichen Ausdifferenzierung des Professionswissens ist zwischen theoretisch-formalem (deklarativem) sowie praktischem (prozeduralen) Wissen und Können (formal vs. practicalknowledge) von Lehrkräften zu unterscheiden (vgl. Fenstermacher, 1994). Zum ersten Wissenstypus gehören neben dem fachlichen Professionswissen auch Teile des fachdidaktischen und allgemeinen pädagogischen Wissens, soweit dies im Forschungsdiskurs erzeugt und begründet wurde.
Nun ist das Wissen und Können von Lehrkräften stark von subjektiven Theorien und Überzeugungen geprägt. Damit sind Vorstellungen und Annahmen von Lehrkräften über schul- und unterrichtsbezogene Phänomene und Prozesse gemeint. Sie beeinflussen die Wahrnehmung und Urteilsbildung, die wiederum das Lehrerhandeln im Unterricht leiten (Köller, Baumert, & Neubrand, 2000; Pajares, 1992). Einige Studien konnten bereits belegen, dass die Überzeugungen von Lehrkräften für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler durchaus wichtig sind (Dubberke, Kunter, McElvany, Brunner, & Baumert, 2008; Staub & Stern, 2002).
Beruhen subjektive Theorien und Überzeugungen jedoch auf falschen Prämissen, können sie das Handeln von Lehrkräften stark einschränken (Kunter & Pohlmann, 2009). Eine reflektierte Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen und subjektiven Theorien gilt daher als eine wichtige Komponente der Professionalität von Lehrkräften (Bromme, 1997; Woolfolk-Hoy, Davis, & Pape, 2006) und sollte somit auch ein Anliegen der Lehreraus- und -weiterbildung sein. Es hat sich gezeigt, dass Überzeugungen von Lehrkräften über den Unterricht durchaus signifikant von den Inhalten ihrer Ausbildung abweichen können (Wahl, 2002). Jene didaktischen Konzepte und Methoden, die Lehrerinnen und Lehrern im Laufe Ihrer Ausbildung als wirksam vermittelt werden, werden nicht zwangsläufig von ihnen in der Praxis genutzt. Selbst die Anwendung des erlernten Wissens auf den Unterricht bei entgegengesetzten Überzeugungen stellt sich als wenig effektiv heraus (Helmke, 2003). Hinzu kommt, dass Überzeugungen im Allgemeinen relativ stabil sind. Auch nach der Konfrontation mit wissenschaftlich fundierten Erläuterungen können Personen an fehlerhaften oder unvollständigen Überzeugungen festhalten (Lewis, 1990; Nisbett & Ross, 1980).
Da Lehrkräfte selbst auch einmal Schülerinnen und Schüler waren, können sie auf eigene langjährige Erfahrungen mit schulischen Lernumgebungen zurückgreifen. Somit haben sie sich bereits ein relativ stabiles Überzeugungssystem oder eine „Grammatik“ des Schulbetriebs (‚grammarofschooling‘; Tyack & Cuban, 1995) aufgebaut, welche eher auf anekdotischer Evidenz als auf empirischer beruht. Sie stellt nicht nur die Basis für ihre weitere Ausbildung dar, sondern beinhaltet ebenso unausgesprochene und vereinfachte Vorstellungen darüber, was eine gute Lehrkraft ausmacht oder wie Schülerinnen und Schüler sich zu verhalten haben (Clark, 1988; Nespor, 1987). Die Tatsache, dass diese Überzeugungen keineswegs mit der Realität übereinstimmen müssen und teilweise sogar in starkem Kontrast zu dieser stehen, kann vor allem dann problematisch sein, wenn sie nicht hinreichend reflektiert und überprüft werden.
Dies findet in der Schule eher selten statt, weil Lehrkräfte fast jede Maßnahme zur Verbesserung des Unterrichts als erfolgreich erleben (Hattie, 2009). Dass es tatsächlich große Unterschiede in der Wirksamkeit einzelner Maßnahmen gibt, wird aufgrund des Fehlens von direkten Vergleichen leicht übersehen. Es scheint der Lehrerprofession prinzipiell inhärent, das eigene Handeln im Unterricht als sinnvoll und zielführend zu beurteilen: (Fast) alles was eine Lehrkraft tut, führt zu einem Lernzuwachs aufseiten der Schülerinnen und Schüler. So lassen sich meist anekdotische Belege für die Effektivität der subjektiv für sinnvoll empfundenen Maßnahmen finden. Hattie beschreibt dieses grundlegende Prinzip des Lehrerhandelns folgendermaßen: „Lasst mich einfach nur machen, denn ich kann belegen, dass das, was ich tue, Lernen und Lernerfolg verbessert“ (Hattie, 2009, S. 7).
Was also können Lehrkräfte von der Wissenschaft lernen? Wie kann die Theorie des Unterrichtens der Praxis des Unterrichtens zur Seite stehen? Zum einen können Lehrkräfte sich im Umgang mit ihren eigenen Theorien an dem empirischen Forschungsprozess orientieren. Das eingangs beschriebene Hinterfragen, Kontrastieren und Überprüfen ist nicht nur bei wissenschaftlichen, sondern auch bei subjektiven Theorien relevant. Für die Lehrkraft bedeutet das, die eigenen Überzeugungen ständig zu reflektieren, sich mit Kolleginnen und Kollegen über Erfahrungen auszutauschen sowie den eigenen Unterricht und den Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler zu evaluieren. So können auch subjektive Theorien im Rahmen evidenzbasierter Praxis geschärft und – wenn notwendig – verworfen werden.
Natürlich kann nicht nur die Methodik der Forschung etwas zur Verbesserung des Unterrichts beitragen, sondern auch ihr Inhalt. Die Hattie-Studie ist hierfür ein gelungenes Beispiel. Sie aggregiert den aktuellen Forschungsstand zur Frage, was in der Schule und im Unterricht am besten wirkt. Werden solche Studien von Lehrkräften rezipiert und reflektiert, kann evidenzbasiertes Lehren und Lernen gewährleistet werden. So sollten Lehrkräfte stets offen für Forschungsergebnisse sein, auch wenn diese von ihren eigenen subjektiven Theorien stark abweichen können. Und auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihren Teil zum Gelingen dieses Austauschs beizutragen. Sie sollten ihre Forschungsergebnisse mehr für Lehrkräfte aufbereiten, wie Hattie es mit seinen Büchern so gut gelingt. Sollten beide Seiten diese Anregungen in die Tat umsetzen, könnte man am Ende vielleicht Kurt Lewin zustimmen: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!
Lerntheorien: Wie lernen Schülerinnen und Schüler am besten?
von Dipl.-Psych. Christoph Lindner, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), Kiel
In diesem Text soll zunächst der Frage nachgegangen werden, was sich hinter dem Begriff „Lernen“ im Allgemeinen verbirgt und welche Implikationen sich diesbezüglich für Lernende und Lehrende im schulischen Kontext ableiten lassen. Anschließend werden prominente Theorien aus der Lernpsychologie vorgestellt, die unterschiedliche Erklärungsansätze zum Thema „Lernen“ liefern. Aufbauend auf den Erkenntnissen der derzeit dominierenden Forschungsströmungen werden Gestaltungsprinzipien für Lehr-Lern-Umgebungen abgeleitet. Diese Einführung gibt dabei einen ersten Überblick, wobei Leserinnen und Lesern, die sich tiefergehend mit dem Thema Wissenserwerb beschäftigen wollen, die Lehrbücher in der abschließenden Literaturlisteund beispielsweise die Arbeiten von Alexander Renkl empfohlen werden.
Was ist Lernen?
Unter dem Begriff „Lernen“ wird in der Pädagogischen-Psychologie der Erwerb von Wissen im Sinne der Aufnahme neuer Informationen verstanden. Der Lernprozess selbst kann nicht direkt beobachtet werden, sondern nur die Lernleistung beim Wissensabruf. Beispielsweise ist es für die erfolgreiche Wiedergabe von Vokabeln unabdingbar, dass die relevanten Informationen beim Lernen gespeichert wurden. Die grundlegende Voraussetzung für Lernen und Lernabruf ist demnach das Gedächtnis, das alle einströmenden Sinnesreize verarbeitet, interpretiert, in bereits angelegte Gedächtnisnetzwerke integriert, langfristig speichert und wieder abruft.
Das durch den Lernprozess erworbene Wissen lässt sich in Faktenwissen (deklaratives Wissen) und Anwendungswissen (prozedurales Wissen) unterscheiden. Unter ersterem versteht man verbalisierbares Wissen beispielsweise von Vokabeln, Grammatikregeln oder auch von Lösungswegen bei Mathematikaufgaben, wohingegen mit letzterem die Fähigkeit gemeint ist, eine Mathematikaufgabe zu berechnen oder einen Aufsatz zu schreiben. Des Weiteren werden Lernprozesse durch das sogenannte metakognitive Wissen unterstützt. Darunter versteht man das Wissen über den Wissenserwerb selbst. Der Aufbau vernetzter Wissensstrukturen wird nach diesem Ansatz begünstigt, wenn Schülerinnen und Schüler wissen, wie sie genau vorgehen müssen, um beispielsweise mathematische Problemstellungen selbstständig zu lösen.
Abschließend soll erwähnt werden, dass der Erfolg des Wissenserwerbs stark von individuellen Personeneigenschaften, wie beispielsweise Persönlichkeitsmerkmalen, motivationalen Faktoren oder der Intelligenz abhängt. Demnach kann die Frage, wie Schülerinnen und Schüler am besten lernen, nicht pauschal beantwortet werden, jedoch liefert die Lehr-Lernforschung empirisch fundierte Theorien, die erklären wie und unter welchen Umständen Lernprozesse bei Lernenden begünstigt werden.
Theoretische Grundlagen des Lernens und Implikationen für den schulischen Kontext
Eine der historisch ältesten lernpsychologischen Strömungen geht auf den Behaviorismus zurück. Diesem Ansatz zufolge nimmt der Lernende grundsätzlich eine von innen heraus passive Rolle ein, wobei das Lernen ausschließlich durch die Reaktion auf äußere Faktoren angestoßen wird. Mentale Prozesse wie beispielsweise Wahrnehmung, Denken, Aufmerksamkeit oder Emotionen werden für die Erklärung von Lernen vollständig ignoriert, wohingegen das beobachtbare Verhalten im Fokus steht. Lernen wird hier durch sogenannte Reiz-Reaktions-Ketten ausgelöst, wobei der Lernstoff kleinschrittig in Aufgaben verpackt, einen Anreiz liefern soll, sich mit dem Lerninhalt auseinanderzusetzen. Ein ergänzender Baustein in diesem Ansatz ist das instrumentelle Lernen, demzufolge ein positiv gezeigtes Lernverhalten belohnt und ein ungünstiges Lernverhalten bestraft werden sollte. Die Häufigkeit des in Zukunft gezeigten Lernverhaltens ist demnach abhängig von den erlebten Verhaltenskonsequenzen. Wird eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Lernstoff belohnt, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Lernende in Zukunft häufiger das gewünschte Lernverhalten zeigt. Der Lehrende spielt im behavioristischen Ansatz die zentrale Rolle, da es seine Aufgabe ist, geeignete Lernanreize zu setzen und passende Rückmeldungen auf die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler zu geben. Die behavioristische Sichtweise gilt nach heutigem Kenntnisstand als beschränkt und unzureichend, da der Wissenserwerb nicht allein durch die Reaktion auf Lernanreize erklärt werden kann, sondern vielmehr einen Prozess darstellt, der sich auch im Gehirn der Lernenden abspielt.
Lerntheorien des Kognitivismus stellen die aktive Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen in den Mittelpunkt des Lernvorgangs. Als Gegenpol zum Behaviorismus wird Lernen nicht als intern passiver Prozess betrachtet, sondern als Fähigkeit, Lösungswege für Problemstellungen durch eine aktive Verarbeitung neuer Informationen unter Berücksichtigung bereits gespeicherter Gedächtnisinhalte zu entwickeln. Dem Lehrenden kommt nach diesem Ansatz die Aufgabe zu, als Wissensvermittler Lerninhalte didaktisch so aufzubereiten, dass die relevanten Informationen einer Problemstellung bestmöglich verarbeitet und in bereits vorhandene Wissensnetzwerke integriert werden können. Somit legt die Lehrkraft den „richtigen“ Lernweg fest, der von den Lernenden zu beschreiten ist, um das vorgegebene Lernziel zu erreichen. Elemente des eigenverantwortlichen und selbstgesteuerten Lernens werden in dem kognitivistischen Lernansatz jedoch zu stark vernachlässigt.
Die derzeit einflussreichsten Lerntheorien basierenauf dem Grundgedanken des (kognitiven) Konstruktivismus. Nach diesem Ansatz können beim Lernen die im Gedächtnis neu aufgenommenen Inhalte erst aufgrund des bereits vorhandenen Vorwissens interpretiert und zu bedeutungsvollen Informationen integriert werden. Je stärker die Lerninhalte beim Wissenserwerb mit anderen relevanten Wissenselementen vernetzt wurden, desto wahrscheinlicher gelingt es langfristig, Informationen aus dem Langzeitgedächtnis erfolgreich abzurufen.
Der Lernprozess wird hier als aktive Konstruktion von Wissen verstanden, wobei Lerninhalte für jede Person eine andere Bedeutung haben können. Beispielsweise verarbeiten Schülerinnen und Schülerrelevante Informationen aus dem Unterricht erst dann, wenn sie einerseits der von der Lehrkraft verwendeten Sprache mächtig sind und andererseits über fachbezogenes Vorwissen verfügen. Akustische Signale, die durch die Stimme der Lehrkraft ausgesendet wurden, werden vom Zuhörenden genau dann als „Fremdsprache“ oder als „unbekannte Worte“ interpretiert, wenn den Lerninhalten aufgrund des mangelnden Vorwissens keine Bedeutung zugeschrieben werden kann. Die Lehrkraft übernimmt nach diesem Ansatz die Rolle eines „Coaches“, der individuelle Konstruktionsprozesse anregen und unterstützen soll, indem er beispielsweise die Aktivierung von Vorwissen für die Bedeutungszuschreibung neuer Lerninhalte fördert. Das Schaffen von förderlichen Lernatmosphären und Lerngelegenheiten ist demnach ebenso wichtig wie die Berücksichtigung individueller Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler beim Lernen. Die Theorie der fokussierten Informationsverarbeitung weist darüber hinaus darauf hin, dass für den aktiven Wissenserwerb die Fokussierung auf zentrale Konzepte und Prinzipien des Lernmaterials essentiell ist und von der Lehrkraft gefördert werden sollte. Demnach hängt die Qualität des Wissenserwerbs entscheidend davon ab, inwieweit bei der aktiven Stoffverarbeitung, der Aufmerksamkeitsfokus auf die relevanten Begriffe oder Gesetzmäßigkeiten gelegt wird. Aus den dargestellten theoretischen Perspektiven lassen sich somit allgemeine Hinweise zur optimalen Gestaltung von Lehr-Lern-Umgebungen ableiten.
Welche Lernformen gibt es und wie sollten Lehr-Lern-Umgebungen gestaltet sein?
Dem Lernen aus Texten kommt eine besondere Bedeutung zu, da diese Lernform in nahezu allen Lehr-Lern-Umgebungen eine wichtige Rolle spielt. Wie gut das Lernen aus Texten gelingt, hängt einerseits vom Vorwissen und der mentalen Aktivierung (z.B. Aufmerksamkeitsfokussierung) der Lernenden, andererseits von der Qualität des Textes ab. Demnach sollten Sätze weder zu lang noch zu komplex gestaltet sein, wobei die Hervorhebung zentraler Begriffe und die Anreicherung komplexer Sachverhalte mit Bildinformationen (Abbildungen und Tabellen) zu empfehlen ist. Zudem ist es vor allem für Lesende ohne Vorwissen begünstigend, wenn relevante Argumentationsketten im Text stringent aufeinander aufbauen.
Eine weitere Lernform ist das sogenannte beispielsbasierte Lernen. Hier werden einzelne Problemstellungen und deren Lösungsschritte in unterschiedlichen Beispielen wiederholt dargestellt. Besonders für Schülerinnen und Schüler ohne Vorwissen ist diese Lernform sehr effektiv, da die Beispiele solange durchgearbeitet und nachvollzogen werden sollen, bis die zugrunde liegenden Aufgabenprinzipien verstanden wurden. Durch die Anreicherung der Lernsituation mit Leitfragen kann sichergestellt werden, dass die Lernenden mittels Selbsterklärungen die Logik der Lösung tiefgreifender verstehen und somit Wissen darüber erwerben, wie inhaltsnahe Aufgaben erfolgreich bearbeitet werden können.
Beim Lernen durch Aufgabenbearbeitung soll die Lehrkraft unterstützend dazu beitragen, dass eine Fokussierung auf die grundlegenden Prinzipien einer Aufgabe (z.B. auf Rechengesetze) stattfindet. Werden die Grundprinzipien beherrscht, sollten die neuen Fertigkeiten durch wiederholtes Üben gestärkt und automatisiert werden.
Beim Lernen durch Erkunden generieren Lernende zentrale Konzepte und Prinzipien selbstständig durch erkunden des Experimentieren, wobei die Lehrkraft den Lernenden auch hier bei der „Fokussierung auf das Wesentliche“ unterstützen soll. So werden individuelle Fehlvorstellungen bewusst und das Testen von Hypothesen erlaubt es, systematisches Wissen über relevante Inhaltsbereiche zu erwerben.
Auch Gruppenarbeiten wirken sich unter bestimmten Umständen lernförderlich aus, wobei hier die konkrete Zusammenstellung einer kooperativen Lerngruppe entscheidend für die Güte desWissenserwerbs ist. Beim kooperativen Lernen soll eine aktive Verarbeitung des Lernstoffs beispielsweise durch sich widersprechende Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler gefördert werden, wodurch das Lernen jedes einzelnen Gruppenmitglieds begünstigt wird. Das aktive Problemlösen in Gruppen führt außerdem dazu, dass vorhandene Wissensstrukturen aufgrund des wechselseitigen Erklärens besser organisiert und reorganisiert werden, wodurch sich einzelne Wissensbereiche besser zu einem Gesamtbild ergänzen.
Weiterführende Literatur
Renkl, A. (2006). Wissenserwerb. In Wild, E., & Möller, J. (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 3-26). Heidelberg: Springer.
Renkl, A., & Atkinson, R. K. (2007). Interactive learning environments: Contemporary issues and trends. An introduction to the special issue. Educational Psychology Review, 19, 235–238.
Woolfolk, A., & Schönpflug (2008). Lernen und Motivation. In Woolfolk, A., & Schönpflug (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 253-398). München: Pearson Deutschland GmbH.
Redaktionell verantwortlich: Katharina Wucke, SenBJF
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