Zitat April 2006

Zitat April 2006

Zitat April 2006

"Man muss sich durch die kleinen Gedanken, die einen ärgern, immer wieder hindurchfinden zu den großen Gedanken, die einen stärken." (Dietrich Bonhoeffer*)



Seit Jahren begleiten mich die Worte von Dietrich Bonhoeffer. Als Plakat zieren sie die Wand in meinem Büro. Diese Worte sind Provokation und Bekräftigung zugleich. Sie provozieren,  immer wieder nach dem Kern, dem Sinn von Veränderungen und deren Ziel zu fragen, dieses nicht durch die vielfältigen Probleme des Alltages - so wichtig sie auch sind - aus den Augen zu verlieren. In ihrer Provokation sind sie zugleich Ermahnung, dass es wichtig ist, dieses Ziel für sich selbst und in einem gemeinsamen Diskurs für die Gesellschaft zu bestimmen. Gleichzeitig sind sie eine Bestärkung, dass es nur durch das Lösen und Überwinden von "kleinen" Problemen gelingen kann, sich dem großen Ziel zu nähern. Das Lösen der "kleinen" Probleme ist für die Zielerreichung unverzichtbar, wichtig ist allerdings, dass sie nicht an die Stelle des Zieles treten dürfen. Auch in schwierigen Zeiten ist es wichtig, sich von einem Ziel leiten zu lassen und daraus die notwendige Kraft zu schöpfen, dafür einzutreten.

 

Als ich gefragt wurde, ob ich einen Beitrag für den Bildungsserver unter der Rubrik "Zitat des Monats" schreiben möchte und ich zugesagt hatte, fiel mir eine Vielzahl von Zitaten über die Erziehung und Bildung ein. Alle meldeten den Anspruch an, ungeheuer wichtig zu sein und Berücksichtigung zu finden. Gleichzeitig bedrängte mich eine fiktive Erwartungshaltung, die, resultierend aus meiner beruflichen Tätigkeit, die Auswahl sehr schwierig gestaltete. Wenn sich der Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft ein Zitat auswählt und es auch noch aus seiner Sicht interpretiert, dann muss es um die Zukunft der Bildung und die Bedingungen ihrer Ausgestaltung in unserem Bundesland gehen.

Bei meinem Nachdenken über mögliche Zitate brachten sich die Worte Bonhoeffers nachdrücklich in Erinnerung. Als Ermahnung und Befreiung zugleich. Ganz bewusst sollen die Worte, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit den Fragen der Bildung formuliert worden sind, einen Grundsatz verdeutlichen, der in allen Bereichen unseres Lebens von fundamentaler Bedeutung ist und somit auch für die Bildung und Erziehung der heranwachsenden Generation und die Ausgestaltung der Bildungspolitik von prägender Wirkung sein kann. Ganz im Sinne von Hartmut von Hentig "Die Menschen stärken, die Sachen klären" rufen uns die Worte des ausgewählten Zitates in Erinnerung, dass es darauf ankommt, bei der Fülle der Veränderungen im Bildungsbereich zu fragen, welchem Ziel, welchen Grundsätzen sie folgen und wem sie dienen! Sind sie eine Aneinanderreihung von Einzelmaßnahmen, die beliebig ausgewechselt werden können und die den Eindruck erwecken, dass sie einem Ziel folgen oder folgen sie tatsächlich einem gemeinsamen Ziel?

Die Sachen nicht beliebig zu klären gelingt nur, wenn man klare Vorstellungen über das Ziel hat. Doch worin bestehen die großen Gedanken für den Bildungsbereich?

 

Für mich steht fest, ein zukunftsfähiges Bildungssystem realisiert Chancengleichheit für jedes Kind, setzt auf individuelle Förderung statt Selektion, organisiert gemeinsames Lernen, entwickelt die Bereitschaft für ein lebensbegleitendes Lernen auf der Grundlage einer positiven Lerneinstellung und basiert auf einem gesellschaftlichen Konsens, der das Recht auf Bildung für jede Bürgerin und jeden Bürger in unserem Gemeinwesen als ein Menschenrecht nicht nur niederschreibt, sondern auch praktiziert. Dieses Ziel kann aus meiner Sicht nur erreicht werden, wenn dieser Weg durch die Schülerinnen , Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer aktiv mitgestaltet wird, wenn "die Menschen gestärkt" werden.

Natürlich sind mir die Probleme und Sorgen des Alltages bekannt, beschleichen mich mehr denn je Zweifel über die Richtigkeit der Ausrichtung der aktuellen Bildungspolitik, wenn ich die 16. Schulgesetznovellierung betrachte.


Die Herausbildung einer solidarischen Zivilgesellschaft - ihre gelingende Gestaltung ist für mich zwingend geboten und alternativlos - beginnt in den Bildungseinrichtungen oder ihr Scheitern ist bereits hier vorprogrammiert.

Gemessen an diesem Anspruch fehlen der aktuellen Bildungspolitik die großen Gedanken. So gesehen ärgern mich die kleine Gedanken oder die realen Probleme des Alltags in unseren Bildungseinrichtungen. Allerdings schärfen und bestärken sie auch die Beschreibung der Alternativen. Daraus resultiert die unverzichtbare Kraft, für die notwendigen Veränderungen zu streiten. Auch dafür steht der Autor des Zitates beispielgebend.

 


*Dietrich Bonhoeffer: geboren am 4. Februar 1906 in Breslau, hingerichtet am 9. April 1945 im KZ Flossenburg), evangelischer Theologe, Mitbegründer der Bekennenden Kirche, Widerstand gegen die Nazidiktatur, seit 1943 von der Gestapo inhaftiert

Vita Günther Fuchs

  • geboren 1959 in Plauen
  • verheiratet, 2 Kinder
  • evangelisch
  • 1975-1980 Studium an der PH Magdeburg (Sonderpädagogik)
  • bis 1991 Lehrer an Potsdamer Förderschulen
  • 1991-1994 Referent für Bildungspolitik
  • seit 1994 Vorsitzender der GEW Brandenburg

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM