Kompetenzentwicklung

Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Pluralisierung der Lebensformen, der sozialen Beziehungen und kulturellen Normengefüge bei gleichzeitig wachsender Individualisierung. Anders als in traditionellen Gesellschaften sind Menschen in der modernen Gesellschaft vielfältigen Entscheidungen ausgesetzt (schulische Laufbahn, Berufs-, Wohnort-, Lebenspartner-, Religionswahl, Entscheidung für oder gegen Kinder etc.). Diese Notwendigkeit zu wählen besteht auch im Bereich der Werte und Normen: In einer durch Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft gelten als von allen geteilte moralische Verbindlichkeiten allein die Prinzipien, wie sie in den universellen Menschenrechten dargelegt und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben sind. Ethische Fragen müssen daher in einem an der Vernunft orientierten Verständigungsprozess gemeinsam geklärt und entschieden werden.

Im Mittelpunkt der Ethik steht das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Mitwelt und zur Umwelt und damit die Frage: „Was ist ein gutes Leben und wie kann man es führen?“ Die Ethik geht davon aus, dass alle Menschen ein grundlegendes Interesse daran haben, dass ihr Leben gelingt und dass sie das Recht haben, selbstständig und bewusst entscheiden zu können, was das eigene Leben zu einem guten, sinnvollen und wertvollen, kurz: zu einem gelingenden Leben macht.

Ziel des Ethikunterrichts ist es, wie im Schulgesetz für das Land Berlin dargelegt, die ethische Reflexionskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu fördern.[1] Dazu lernen sie, Probleme des persönlichen Lebens und des menschlichen Zusammenlebens kriteriengeleitet zu reflektieren, damit sie sich in ihrem Leben orientieren und selbstbestimmt und verantwortungsvoll handeln können.

Somit trägt der Ethikunterricht dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler sich in Konflikt­situationen mit den Beteiligten über den Sinn und moralischen Wert von Verhaltensweisen und unterschiedlichen Normen verständigen, also Menschen in ihrer Diversität akzeptieren und deren Würde anerkennen. Unterschiede zwischen Menschen in ihrem sozialen Stand, ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit oder in ihrer kulturellen Zugehörigkeit werden im Ethikunterricht wahr- und angenommen.

Als Grundlage der eigenen Entscheidungen und Handlungen wird nicht nur erfahrungsgeleitetes und logisches Denken und das Abwägen von Konsequenzen bewusst gemacht, sondern auch der Einfluss von Bedürfnissen sowie bewussten wie unbewussten Emotionen. Der Unterricht entspricht dem neueren Verständnis des Zusammenwirkens von kognitiven und affektiven Prozessen.

Die im Ethikunterricht behandelten Probleme gehen von dem Vorwissen und der Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler aus, d. h. von biographischen Erlebnissen, Vorurteilen, Meinungen, religiösen Überzeugungen, kulturellen und sozialen Prägungen etc. In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen reflektieren die Lernenden ihre Erfahrungswelt.

Das Mittel, ethische Positionen in Richtung auf Wahrheit, Plausibilität und Richtigkeit zu prüfen, ist eine an den Menschenrechten orientierte Vernunft. Eine faire und vernünftige Auseinandersetzung fordert eine Ausrichtung an der Sache und einen respektvollen und verantwortungsbewussten Umgang mit den Meinungen und Argumenten anderer. Dazu gehört auch die Reflexion und Kenntnis philosophischer, kultureller, religiöser und weltan­schaulicher Zusammenhänge.

Zur Förderung dieser vernunftgeleiteten Reflexion lernen die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche ethische Positionen, Modelle und Theorien aus der Philosophie sowie aus ethisch relevanten Teilbereichen der Psychologie, den Religions-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften kennen. Dabei ist die Vermittlung dieses theoretischen Wissens im Ethikunterricht kein Selbstzweck. Vielmehr dient es dazu, eine kritische Distanz zu eigenen und fremden Normen und Werten zu bekommen und auf Grundlage des ethischen Wissens das eigene Denken und Handeln reflektieren zu können.

Da die Ethik seit über zweitausendfünfhundert Jahren eine philosophische Disziplin ist, stellt die Philosophie den fachlichen Referenzrahmen dar. Unter Philosophie wird hier das methodisch geleitete Nachdenken über die Grundlagen des menschlichen Denkens, Handelns und Seins verstanden. Kennzeichnend für den philoso­phischen Umgang mit Problemen ist es, scheinbar Selbstverständliches infrage zu stellen und Vorurteile, die dem alltäglichen Denken und Handeln zugrunde liegen, der kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei berücksichtigt die Philosophie als Universalwissenschaft die Erkenntnisse aller Wissenschaften.

Das Fach Ethik wird bekenntnisfrei – also religiös und weltanschaulich neutral – unterrichtet. Dennoch ist der Unterricht nicht wertneutral. Unhintergehbarer Bezugspunkt sind die Menschenrechte. Dazu gehören Toleranz und Achtung anderer Überzeugungen, Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Vermeidung gewaltsamer Konfliktlösungen. Dennoch gilt: was in der Realität kontrovers ist, muss auch im Unterricht als Kontroverse wiederkehren. Der Ethikunterricht zielt auf die Ausbildung einer dialogischen Gesprächskultur, in der Konsens angestrebt sowie Dissens akzeptiert und ausgehalten wird.

Für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen initiiert die Lehrkraft Begegnungen mit Menschen anderer Generationen, Kulturen und Religionen aus der regionalen Umgebung und ermöglicht den Besuch außerschulischer Lernorte, wie z. B. Kirchen, Moscheen, Synagogen und andere religiöse Stätten, Seniorenheime, soziale Initiativen und Institutionen, soweit dies im Rahmen der schulischen Struk­turen möglich ist.

[1]  Vgl. Schulgesetz für das Land Berlin § 12, Absatz 6: „(…) Ziel des Ethikunterrichts ist es, die Bereitschaft und Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Herkunft zu fördern, sich gemeinsam mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinander zu setzen. Dadurch sollen die Schülerinnen und Schüler Grundlagen für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben gewinnen und soziale Kompetenz, interkulturelle Dialogfähigkeit und ethische Urteilsfähigkeit erwerben. Zu diesem Zweck werden Kenntnisse der Philosophie sowie weltanschaulicher und religiöser Ethik sowie über verschiedene Kulturen, Lebensweisen, die großen Weltreligionen und zu Fragen der Lebensgestaltung vermittelt.“

Das Fach Ethik befähigt Schülerinnen und Schüler, respektvoll und kritisch mit anderen Menschen und deren Überzeugungen und Lebensweisen umzugehen und soziale Verantwortung zu übernehmen. Daher ist die zentrale Kompetenz, die die Lernenden im Ethikunterricht erwerben sollen, die ethische Reflexionskompetenz. Sie bildet eine zentrale Voraussetzung, um sich im Leben zu orientieren und moralisch zu handeln. Die ethische Reflexionskompetenz besteht in der Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit grundlegenden ethischen Problemen konstruktiv unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation auseinanderzusetzen. Sie umfasst die folgenden sich ergänzenden, teils überschneidenden, in gegenseitiger Wechselwirkung stehenden Kompetenzen:

Wahrnehmen und deuten

als die Kompetenz, auf der Grundlage von Sinnes- und Sinnerfahrungen Sachverhalte unter ethischer Perspektive wahrzunehmen, zu bezeichnen und einzuordnen. Dazu gehört die Fähigkeit, zu den eigenen Emotionen, Bedürfnissen und Interessen in Distanz zu treten, das Wahrgenommene aus dieser Distanz heraus zu beschreiben und vorgegebene Muster und Vorurteile zu bemerken. Hinzu kommt das Erfassen unterschiedlicher Interessen und Motive in alltäglichen Situationen und in gesellschaftlichen Bereichen von Technik, Ökonomie, Wissenschaft, Politik und Religion. Dies alles führt dazu, zu Sachverhalten ethische Problemfragen stellen zu können. Aus der Wahrnehmungskompetenz entsteht der vorurteilsfreie Blick, der Voraussetzung ist, um die Perspektive anderer einnehmen zu können und ethisch zu urteilen.

Perspektiven übernehmen

als die Kompetenz, auf Grundlage der Kenntnisse einer anderen Person zumindest in Annäherung deren Denken, Fühlen, Wollen etc. in einer konkreten Situation nachvollziehen zu können: Es geht um die Fähigkeit, die Welt mit den Augen des anderen zu betrachten.

Voraussetzung hierfür ist eine Beschäftigung mit den Gegebenheiten, welche die Person des anderen konstituieren, wie Biographie, Kultur, Religion, Gesellschaft, Machtverhältnisse etc. Je größer die Kenntnis des anderen, desto besser kann es gelingen, seine Perspektive einzunehmen. Dabei muss stets bewusst bleiben, dass diese Einnahme immer nur in einer Annäherung bestehen kann. Unabdingbar für diese Annäherung ist die Erkenntnis des Eigenen im Fremden. Insofern folgt aus der Kompetenz der Perspektiveinnahme die Möglichkeit, soziale, kulturelle und religiöse Interaktionsprobleme auf faire Weise zu bewältigen.

Sich im Dialog verständigen

als die Kompetenz, eine dialogische Gesprächskultur, in der Konsens angestrebt wird und Dissens akzeptiert und ausgehalten wird, auszubilden. In diesem Zusammenhang setzen sich die Schülerinnen und Schüler inhaltlich mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen auseinander und entwickeln dabei ein Bewusstsein für individuelle und kulturelle Unterschiede. Gefühle und Wertungen werden verständigungsorientiert mitgeteilt und lebensweltlich geprägte Sichtweisen und Fragen auf Begriffe gebracht.

Ziel ethischer Dialoge ist es nicht, Recht zu bekommen, sondern das zur Debatte stehende Problem zu klären oder einzusehen, dass es für eine Klärung weiterer Gespräche bedarf. Dazu gilt es, sich selbst anderen verständlich zu machen und Offenheit und Aufmerksamkeit für die Auffassungen, Gefühle und Werthaltungen des anderen aufzubringen.

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Argumentieren und urteilen

 

als die Kompetenz, sich mit eigenen und fremden Positionen zu ethischen Fragen kritisch auseinanderzusetzen, widerspruchsfrei und begründet zu argumentieren, differenziert Positionen zu beurteilen und ein eigenes reflektiertes Urteil zu fällen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, wesentliche Aussagen aus Texten und Materialien unterschiedlicher Art zu erfassen und diese in unterschiedlicher Art und Weise zum Ausdruck zu bringen und für die Argumentation zu nutzen.

Zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung des Kompetenzbereichs Argumentieren und urteilen sind die Kompetenzbereiche Wahrnehmen und deuten, Perspektiven einnehmen sowie Sich im Dialog verständigen.

Redaktionell verantwortlich: Boris Angerer, LISUM