Zitat September 2020

Zitat September 2020

"Ich bin ein erwachsener Mensch und will mich mit erwachsenen Menschen unterhalten können." 

D.G., Schüler im Zweiten Bildungsweg

Als er vor mir saß und diesen Satz sagte, war Herr G. etwa 30 Jahre alt. Er erzählte ein wenig von seiner Bildungsbiografie. Ich erinnerte mich an ein geflügeltes Wort unter uns, als wir Schüler der Erweiterten Oberschule waren: Bildung ist wie ein Drahtzaun: Loch an Loch und hält doch. Was Herr G. mir erzählte, war damit nicht vergleichbar. Regelmäßige Schulbesuche gab es für ihn etwa bis zur 5. Klasse. Er hatte keinen Beruf erlernt.
"Kann ich hier bei ihnen den Abschluss machen?" fragte er.
Ich fragte bei der Kollegin, die den zweiten Bildungsweg leitete, nach. "Ach", meinte die, "ich habe inzwischen hier so viele Bildungsbiografien, wir versuchen es einfach." "So viele Bildungsbiografien" haben wir seit 2015. Bis dahin war selbst im zweiten Bildungsweg noch alles normal. Jetzt kamen Schüler mit geringen Deutschkenntnissen und großen Lücken in der Bildungsbiografie, weil sie die Jahre, die eigentlich der Schule gehören sollten, auf der Flucht verbracht hatten. Herr G. war nicht auf der Flucht gewesen. Er hatte einfach nicht in unser Bildungssystem gepasst. Auch die Förderschule konnte ihm nicht helfen. 
Ich kannte die Erzählungen der Menschen, die mit 50 anfingen, lesen und schreiben zu lernen. Ich beschäftigte mich seit drei Jahren mit Grundbildung für Erwachsene. Ich dachte: vielleicht schafft er es doch noch. Und selbst, wenn er den Abschluss nicht schafft. Er wird dazulernen. Er wird mit anderen Menschen zusammenkommen.
Irritiert war die Betreuerin von Herrn G. Sie erzählte mir am Telefon, was er alles nicht kann, und machte uns wenig Hoffnung. 
Herrn G. traf ich regelmäßig vor der Volkshochschule. Manchmal kam er auch ins Lerncafé. Hier half ihm ein älterer Herr weiter - ehemaliger Journalist, weitgereist und weltgewandt. Die beiden hätten sich nie kennengelernt, gäbe es das Lerncafé nicht. Herr G. lernte Englisch und Mathe. In Geschichte ist er sehr gut, die binomischen Formeln verstand er nicht. 
Vor einer Weile saß er wieder bei mir im Büro. Er hatte sich ursprünglich vorgenommen, die 9. Klasse zweimal zu machen. Beim zweiten Mal würde er wohl den Abschluss schaffen. Auch wenn er in Mathe vielleicht durchfällt. Aber er hatte sich verschätzt. Unterschätzt. Er hat gute Chancen, es im ersten Anlauf zu schaffen.


Carmen Winter ist die Leiterin des Grundbildungszentrums der Volkshochschule Frankfurt (Oder).

 

 

 

Carmen Winter

  • 1963 in Wriezen geboren
  • Germanistik-Studium in Berlin
  • seit 1988 Leben in Frankfurt (Oder)
  • Mitarbeit im Kunstverein, im Kleist-Museum und bei einem sozialen Verband
  • 1999 Selbständigkeit: Journalismus, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Buchpublikationen
  • Dozentin für kreatives Schreiben
  • Seit 2015 Leiterin des Grundbildungszentrums an der Volkshochschule Frankfurt (Oder)

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM