Zitat Juli 2019

Zitat Juli 2019

Marc Schreiber

  • Literatur- und Politikwissenschaftler
  • Projekleiter der "Regionalen Tafelrunden" im Rahmen der "Qualitätsoffensive Schulverpflegung" des Landes Brandenburg
  • aktiv im Sprecher*innenkreis des Ernährungsrates Prignitz-Ruppin

"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ (Helmut Schmidt über Willy Brandt 1981)

Echt jetzt? Ich würde Herrn Schmidt erwidern, dass seine Familie ohne Visionäre immer noch in der Höhle sitzen und Moos als Abendmahlzeit von den Wänden kratzen würde. Wie kann man ohne eine Vision leben? Verstehe ich nicht!
Ach, ich muss das einschränken: ich rede nicht von dieser "Vision", in der es um Gewinnmaximierung, Effizienzsteigerung, Wettbewerbsvorteile und Konkurrenzdenken geht. Aufgrund dieser omnipräsenten Vision in unserer Weltgesellschaft haben es andere Visionen seit der Industrialisierung und vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges schwer, Fuß zu fassen. 
Und ganz ehrlich, Leute mit dieser Vision würde ich eigentlich gern zum Arzt schicken, zum Psychoarzt. Mit dem Verdacht auf Soziopathie. 
Aber es wird höchste Eisenbahn, dass wir uns mal langsam wieder erinnern, wie wir unsere wirklichen visionären Antennen benutzen können. Höchste Eisenbahn!!!
Denn – erneut ganz ehrlich – wir haben keine Vision von einer anderen Art des Zusammenlebens. Wir haben keine Vision, die wir dem Flatscreen mit 150er Bilddiagonale, bezahlbar in 36 Monatsraten und 0%-Finanzierung entgegenstellen können. Und der Green Deal, der Gewinnmaximierung, Effizienzsteigerung, Wettbewerbsvorteile und Konkurrenzdenken nur grün anmalt, ist das auch nicht, im Gegenteil – alter Wein in neuen Schläuchen. 
Welche wirklichen Antworten haben wir auf 30.000 verhungerte Menschen täglich aufgrund struktureller Gewalt, auf den weltweiten rapiden Anstieg bei der Einnahme von Antidepressiva (und nein, ich sehe das nicht positiv, nur weil gleichzeitig die Selbstmordrate sinkt) und auf eine immer stärkere sozioökonomische Unterscheidung gesellschaftlicher Milieus?

Ohne eine Vision, die uns zieht, die uns glaubhaft ein Leben imaginisiert, welches sich lohnen würde zu leben, werden wir die Herausforderungen nicht meistern. Ein „Mehr“ an Gewinnmaximierung, Effizienzsteigerung, Wettbewerbsvorteilen und Konkurrenzdenken kann nicht die Lösung sein. Hier greift Zitat Nummer zwei: 
"Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind." (Albert Einstein)

Ach ja, was hat das alles mit meiner Arbeit zu tun? Ich mache in Bildung, in Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), mit dem Fokus auf dem Sozialem und auf Kultur, da diese beiden Bereiche auch in der BNE gerne vernachlässigt werden, denn die zeitintensive Arbeit mit Menschen und deren Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen ist nun alles andere als effizient und stört in der Regel, auch beim Green Deal. 
Deutlich wird es gerade beim aktuellen Projekt "Regionale Tafelrunden". Da geht es um die Verbesserung der Schulverpflegung. Da stehen wir, so meine bescheidene Meinung, vor der Entscheidung für Reförmchen oder für wirkliche Veränderungen. Aber Veränderungen lassen sich nur bewirken, wenn sich Denken verändert, dann Verhalten, dies nachhaltig wird und als neue Spielvariante an die nächste Generation weiter gegeben wird. 
Und jetzt versuch mal, Brandenburgern klar zu machen, dass sie nicht sterben, wenn sie nicht täglich Fleisch essen. Und jetzt versuch mal, Entscheidern klar zu machen, dass man der Seuche "Übergewicht" (die enorme Kosten verursacht) bereits in der Schule etwas entgegenstellen kann, und dass das durchaus etwas kosten darf. Und jetzt versuch mal, Ernährung als lebensadäquates Querschnittsthema in das System Schule zu integrieren und mehr Räume zu schaffen für Projekttage, längere Pausen, eine andere Art der Schulkultur, Transdisziplinarität und nachhaltige Bildungslandschaften, die auch diesen Namen verdienen.
Das alles hat langfristig Konsequenzen, die sich auf Gewinnmaximierung, Effizienzsteigerung, Wettbewerbsvorteile und Konkurrenzdenken auswirken. Aus heutiger Sicht ist das noch schlecht. 
Aus der Sicht von morgen könnte das aber gut sein, da es Kooperation, Gemeinschaftsgefühl, Solidarität, Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung fördert.

In dem Zusammenhang … vielleicht war die Familie von Herrn Schmidt in der Höhle gar nicht so unglücklich, trotz Moos zum Abendbrot. Die hatten auf jeden Fall noch ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl. Aus dieser Perspektive klingt das gar nicht mehr so unsympathisch. Aber ich denke nicht, dass Herr Schmidt das so gemeint hat. 


Marc Schreiber ist Koordinator im Netzwerk Bildung engagiert für Nachhaltige Entwicklung der Landesarbeitsgemeinschaft für politisch-kulturelle Bildung in Brandenburg e.V.

 

 

 

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM