Zitat Oktober 2011

Zitat Oktober 2011

Zitat Oktober 2011

„ ... dass im Bildungsbegriff ein Verständnis vom Menschen als maßgeblich und nicht bloß als zu vermessendes Wesen festgehalten wird.“
Jörg Ruhloff 2009*

 

Ruhloff ist ein bekennender Kritiker der derzeitigen Reformwut im Bildungsbereich und klagt - wie ich finde berechtigt – die um sich greifende Ökonomisierung der Bildung an. Heute interessieren uns ‚PISA’, ‚Kompetenzen’ und ‚Leistungsdispositionen’, ‚Qualifikationsrahmen’, und ‚Schulstrukturreformen’ etc. Dies sind einige Schlüsselbegriffe, die die derzeitigen, in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagern geführten Bildungsdebatten bestimmen. Was hat dies nun mit einer Einrichtung der außerschulischen Jugendbildung, wie dem wannseeFORUM zu tun? Schließlich liegt unsere Arbeit außerhalb des engeren bildungspolitischen Radarschirms?

Das wannseeFORUM wurde im Nachkriegsdeutschland (1951) im Geiste der amerikanischen Re-Education gegründet. Diese Wurzeln prägen uns bis heute: Auch 60 Jahre nach unserer Gründung sind wir der Überzeugung, dass Demokratie und Gesellschaft gestaltet werden muss und möchten junge Menschen motivieren und unterstützen, sich in diese unsere Gesellschaft einzumischen. Unsere Schwerpunkte liegen im Bereich der politischen, künstlerischen und medialen Bildung. Eine Besonderheit des wannseeFORUM ist, dass alle Themen in künstlerischen Werkstattgruppen bearbeitet und am Schluss präsentiert werden – zum Beispiel Theater, Fotographie, Video, Weblog, Comic, Bildende Kunst.

Die Sprache der Kunst ist eine wunderbare, kreative und eigensinnige (Ver-)Mittlerin. Sie ermöglicht eine diskursive Auseinandersetzung mit Themen und Inhalten; dieses ‚andere’ Lernen macht Spaß und stärkt die jungen Menschen. Wir erleben – quasi täglich – wie beeindruckt die Jugendlichen sind, was sie über die Sprache der Kunst ausdrücken können. Aber: außerschulische Bildung, ‚diese’ Bildung, braucht Zeit, Geduld, (Spiel-)Raum und Energie. Immer häufiger werden wir gefragt, ob wir nicht Angebote machen können, die ‚schneller gehen’, die ‚kürzer sind’ oder lassen während einer Seminarwoche ‚mal kurz eine Klausur schreiben’. Der Wunsch nach ‚einfacheren’ Ergänzungsangeboten zum schulischen Lernalltag können nicht den Schulen und LehrerInnen angelastet werden; sie reagieren letztendlich nur auf den System- und Reformdruck.

Strukturreformen im Bildungswesen, wie beispielsweise in Berlin, sind natürlich richtig, auch die Profilbildung von Schulen ist sinnvoll, ebenso wie der Blick darauf, wie andere Staaten ihr Bildungswesen organisieren. In der Praxis unterliegt Bildung damit aber zunehmend den Prämissen von Effizienz, Verwertbarkeit, Messbarkeit und Vergleichbarkeit. Ökonomische Systemlogiken dienen mehr und mehr als Grundlage für die Entwicklung bildungspolitischer Ziele und Maßstäbe. Herauskommt ein eng getakteter Schulalltag ohne Freiräume.

Wo führt dieser Paradigmenwechsel, diese „Neudefinition von Bildung“ (Ruhloff) in unserem Falle hin? Zur außerschulischen Jugendbildung light? Jugendbildungseinrichtungen waren und sind wichtige dritte Lernorte, die außerhalb des Alltags mit Raum, Zeit und eigenen Arbeitsmethoden aktuelle politische, gesellschaftliche und jugendspezifische  Fragen aufgreifen und die (immer wieder!) junge Menschen anregen und begeistern, sich in diese Gegenwart und Gesellschaft aktiv einzubringen. Keine Frage, unsere Arbeit ist im bildungspolitischen Gesamtkontext eher leise, gleichwohl ist sie nachhallend.

Aus bildungsphilosophischer Sicht sagt Ruhloff hat Bildung die Aufgabe „die Selbst- und Weltbeziehung“ des Menschen zu ermöglichen. Ein/e Jugendliche/r bilanzierte ein Seminar im wannseeFORUM mit dem Satz: „Ich habe selten in einer Woche so viel gelernt und so viel Spaß gehabt.“ Beide Zitate machen deutlich: Die Maßgeblichkeit des Menschen sollte uns bei der Entwicklung von Bildungszielen und der (Weiter-)Entwicklung unserer Bildungspolitiken wieder mehr interessieren!

 

Bettina Heinrich
Leiterin wannseeFORUM
Wannseeheim für Jugendarbeit e.V.

 

 

 

 

*Jörg Ruhloff: Die Tradition humanistischer Bildung seit der Renaissance und die gegenwärtige Neudefinition von Bildung (2009). In: „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht ...“ – Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Hrsg. von Hans-Ulrich Lessing und Volker Steenblock, Freiburg im Breisgau 2010. S. 183 – 203

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bettina Heinrich

  • geboren 1960 in Karlsruhe
  • 1980 – 88: Studium der Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kulturwissenschaft und Erwachsenenbildung an der Universität Tübingen
  • 1882/83: Favela Monte Azul, Praktikum und Arbeitsaufenthalt, São Paulo (Brasilien)
  • 1989 – 92: Bürogemeinschaft FOKUS - Teilhaberin - Museums- und Ausstellungsplanung
  • 1992 – 95: Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung, Berlin; wiss. Mitarbeiterin in der Projektleitung eines Bundesprojektes
  • 1995 – 2000: Fachhochschule Potsdam - Leitung Abteilung Weiterbildung sowie ab 1998 koordinierende Leitung der Stabsstellen des Rektorats der Fachhochschule Potsdam - Öffentlichkeitsarbeit, Marketing, Wissens- und Technologietransfer
  • 2000 – 2007: Deutscher Städtetag, Berlin, Köln, Brüssel. 2000 – 03: Referentin für Kulturpolitik, Berlin; 2003/04 Referentin für Europafragen, Brüssel und 2005 – 07: Referentin für Bildungs- und Kulturpolitik
  • 2007 – 2009: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten. Leiterin des Referats für Grundsatzangelegenheiten, Kunst am Bau, Kunst im Stadtraum und Bauangelegenheiten
  • Seit Februar 2010: wannseeFORUM, Berlin. Leiterin

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Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM