von Christoph Hamann
Berlin als historischer Ort
"Du hattest [...] bestimmten Anlaß, die Szene des Stücks nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, daß das Ganze dadurch den Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem als Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische."
So beurteilt in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen und Märchen "Die Serapionsbrüder" ein Protagonist der Geschichte die literarische Erzählung eines Freundes. Er bezieht seine √úberlegungen auf fiktionale Geschichten, die genannten Argumente treffen aber ebenso auf die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zu. Denn auch historische "Ereignisse haben einen Ort, an dem sie stattfinden. Geschichte hat ihre Schauplätze" (Karl Schlögel). Vergangenheit hat also nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Dimension. Und auch hier gilt: Durch die Begegnung mit dem Ort, an dem das historische Ereignis stattgefunden hat, kann die Vorstellung von der Vergangenheit an "Lebendigkeit und Frische" gewinnen und einer "trägen Phantasie aufhelfen". Und: Anders als der literarische Ort, vermag der historische Ort nicht nur den Anschein "historischer Wahrheit" zu erzeugen, sondern er scheint diese geradezu zu verbürgen. Die Distanz zwischen dem zeitlich Fernen und der Gegenwart scheint durch die räumliche Nähe zu schwinden. Dem historischen Ort wird häufig ein hoher Grad an Authentizität zugesprochen. Angesichts der Beschleunigung von Veränderung unserer Lebensbedingungen steigt gerade dieses Bedürfnis nach dem Authentischen, davon lebt ein nicht unwesentlicher Teil des Tourismus.
Schauplätze von Ereignissen, die für uns heute historisch bedeutsam sind, finden sich gerade in Berlin in einer Verdichtung, die so in Deutschland wohl selten ist. Dies betrifft die Zeitgeschichte (Nationalsozialismus, DDR) ebenso wie die oft zu wenig wahrgenommene demokratische Traditionslinie der Stadt. Zu erinnern ist an die Revolution 1848 mit den Barrikadenkämpfen an vielen Stellen in der Stadt und dem Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain sowie an die Orte der Revolutionen von 1918 und 1989. Der märkische Sand unter dem Berliner Pflaster ist also historisch gesättigt. Topografische Tiefenbohrungen in historiografischer Absicht lohnen sich nahezu immer. Die Einsicht in die räumliche Dimension des Historischen begründete gar einen eigenen Wissenschaftszweig der Geschichtswissenschaft – die "spacing history".
Die Stadterkundung als Methode
Die historische Stadterkundung ist ein Ansatz mit einem hohen geschichtsdidaktischen Potenzial. Ziele können nach Ulrich Meyer sein
- Anstoßen längerfristigen Interesses für Geschichte
- Sensibilisierung für die bewusste Wahrnehmung historischer Überreste
- Vermittlung von Vorstellungen über historische Gegebenheiten
- Vermittlung von Erkenntnissen über historische Zusammenhänge
- Anbahnung und Einübung elementarer historischer Denk- und Arbeitsweisen
- Verständnis für die Einmaligkeit und Schutzwürdigkeit historischer Orte.
Drei weitere Überlegungen lassen die Konzentration auf die Vergangenheit und Geschichte des im wahren Sinne des Wortes Naheliegenden lohnenswert erscheinen. Die Voraussetzungen für entdeckend-forschendes Lernen von Schülerinnen und Schülern sind in Berlin sehr günstig. Eine große Anzahl an Museen, Gedenkstätten oder Vereinen widmet sich der Vergangenheit der Stadt und bietet für Interessierte ein breites Dienstleistungsangebot an. Die Berliner Lokal- und Regionalgeschichte ist außerdem durch die Literatur außerordentlich gut dokumentiert (siehe Literaturhinweise). Auch lerntheoretisch gesehen zeigen sich Vorzüge: Die historische Projektarbeit bietet für die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit eines forschenden und entdeckenden Lernens, das weitgehend selbstgesteuert entlang der individuellen Erkenntnisinteressen erfolgt. Ebenso zeichnet sich gerade ein solches Lernen durch eine starke Nachhaltigkeit aus. Und schließlich fördern und fordern die in vielen Bundesländern eingeführten neuen Prüfungsformen zum Abschluss der jeweiligen Bildungsgänge historische Projektarbeit.
Historische Projektarbeit stellt hohe Kompetenzanforderungen an die Schülerinnen und Schüler, sie bietet aber viele Möglichkeiten, die Kompetenzentwicklung individuell, umfassend und nachhaltig zu fördern. Letztlich sind sie aufgefordert, ihr Erkenntnisinteresse zu klären und wie auch Historiker selbst eine Geschichte zu schreiben, die quellengestützt, sinnvoll und adressatenorientiert ist. Sie stellen damit ihre narrative Kompetenz unter Beweis. Die Anwendung methodischer Fertigkeiten wie Quellenrecherche, Quellenanalyse und -kritik stellt ebenso eine Herausforderung dar wie auch die triftige Kontextualisierung des Erarbeiteten. "Weisheit ist nicht der Weisheit letzter Schluß" formulierte Donald Duck. Damit sind die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, das Gelernte auf sich und ihr Leben zu beziehen, es zu werten und für das eigene Leben zu nutzen, soll die reflexive Auseinandersetzung mit Vergangenheit nicht träges, bedeutungsloses Wissen generieren.
Die Lindenstraße(n)
Der Name "Lindenstraße" weckt Assoziationen, z. B. an die gleichnamige Fernsehserie. Diese Assoziationen sind beabsichtigt, denn der Name der Berliner Lindenstraße kann als Metapher dienen für die "Lindenstraßen" schlechthin in der Bundesrepublik. Alle Lindenstraßen haben eine Vergangenheit. Und vielleicht haben viele dieser Lindenstraßen einen Bezug zur Geschichte der Juden in Deutschland. Oder: Sie haben einen Bezug dazu, wie deutsche Nichtjuden ihre jüdische Minderheit behandelt haben. Insofern ist der Name der Straße nicht nur eine konkrete Ortsbezeichnung, sondern zugleich eine Metapher. Er soll auch eine Anregung sein, die Geschichte vieler Straßen des unmittelbaren (Wohn-, Schul-, etc.) Umfeldes zu erforschen. Das vorliegende Konzept einer Stadterkundung mit den Schülerinnen und Schülern in der Berliner Lindenstraße zeichnet sich durch Folgendes aus:
- Die Wegstrecke mit ihren 14 einzelnen Stationen ist charakterisiert durch eine außerordentliche Verdichtung jüdischer Geschichte.
- Zentrale Institutionen autochthonen jüdischen Lebens können ebenso exemplarisch vorgestellt werden wie die Verfolgung von und der Widerstand durch Juden.
- Das Spektrum der erfassten Lebensbereiche ist breit: Es reicht von Religion, Wirtschaft, Architektur, Literatur bis zur Politik.
- Die Themen und Stationen umfassen den Zeitraum vom frühen 19. Jahrhundert bis heute.
- Eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann geschlagen werden – das Jüdische Museum Berlin hat in der Lindenstraße seinen Sitz.
Der historische Ort ist in Berlin manchmal schwer zu finden, denn die Dynamik von Wachstum und Zerstörung, von Umbau und Neubau in Vergangenheit und Gegenwart veränderte das Stadtbild Berlins nahezu fortwährend. Und so gilt auch für die Zeit nach der friedlichen Revolution von 1989 Karl Schefflers prägnante Formulierung aus dem Jahre 1910 noch immer: "Berlin (ist) dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein." Die Stadtlandschaft Berlin ist ein Palimpsest, ein vom Gang der historischen Ereignisse fortwährend überschriebener Raum. Dies gilt insbesondere für die Lindenstraße. Die Herausforderung, Vergangenheit zu "verorten", ist hier besonders groß. Zugleich wird dadurch die Gelegenheit gegeben, gerade hier die Geschwindigkeit und Tiefe der historischen Veränderung in der Stadt erfahrbar zu machen.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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