Zitat Oktober 2005

Zitat Oktober 2005

Zitat Oktober 2005

"Zweifel sind keine angenehme Voraussetzung, aber Gewissheit ist eine absurde."      (Voltaire)

 
Wann entscheidet man sich für einen Beruf? Wie lange darf man keine Antwort wissen auf die häufig gestellte Frage, was willst du später einmal werden?

 

Mein nicht ganz klassischer Weg zum Lehrerberuf war zunächst der der 'Gewissheit'. Kindlichen Berufswünschen wie Tierpfleger, Förster etc. standen meine Eltern recht ratlos gegenüber. Offensichtlich entsprachen die Vorstellungen des 11-jährigen nicht den Träumen der Erziehungsberechtigten. Für technische Berufe fehlte sehr offensichtlich eine 'rechte' Hand. Mein älterer Bruder musste zumindest nie darüber nachdenken, in welche Richtung er eine Schraube zu drehen hatte. Kurz: man kam auf die Alternative Lehrer. Der Junge liest ja so viel. Bei abendlichen Gesprächen ging es scheinbar um Schule, in Wirklichkeit um Berufsorientierung. Schlussendlich besuchte ich nicht mehr die AG "Junge Aquarianer", sondern mutierte zum "Jungen Pädagogen". Jetzt konnte ich zielsicher in jeden entsprechenden Fragebogen meinen Berufswunsch eintragen. Die fragenden Lehrkräfte sahen es wohl kaum mit Unbehagen und ich war eine Sorge los. Sieben Jahre später hielt ich die Zulassung für das Studium der Fächer Deutsch und Geschichte an der Pädagogischen Hochschule "Karl Liebknecht" in Potsdam in der Hand, noch bevor ich das Abitur abgelegt hatte.
Die Gewissheit, mit der mich meine Eltern geimpft hatten, zeigte erste zweiflerische Löcher. So wurden anlässlich der Überarbeitung einiger Lehrpläne alle 12. Klassen 'anonym' zu ihren Vorstellungen von Schule befragt. Im Anschluss daran konnten einige Antworten nicht weitergeleitet werden. Ich fand mich mit anderen Schülerinnen und Schülern bei einem intensiven Gespräch im Direktorat der Schule wieder. Wir hatten zu viele Zweifel, an dem was und wie es gelehrt wurde, geäußert. Dabei ging es nicht um substantielle Kritik am Staat DDR. Es handelte sich wohl eher um Ideen aus der Kategorie 'Verbesserungsvorschläge'.
Zwei Jahre später war meine 'sichere' Berufsperspektive genauso verschwunden wie der Staat, der sie garantiert hatte. Wie viele Lehrer würde man in fünf bis sechs Jahren benötigen? Können und sollen Werte, die vor 1990 galten, auch danach ihren Platz in einer doch sehr anderen Schule finden?

 

Heute scheint der Weg zur Berufswahl im Sinne Voltaires ein umgekehrter zu sein. Langen Phasen des Zweifelns und der Unsicherheit folgt, häufig auch von Sachzwängen getragen, eine Entscheidung, die mitunter schon bald wieder hinterfragt wird. Trotz WAT-Unterricht, BIZ-Exkursionen usw. fehlen oft die von Eltern und Lehrern eingeforderten klaren Ziele.
Jugendliche haben generell kaum Zeit eigene Vorstellungen zu entwickeln, wenig Spielraum Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht haben Sie auch zu wenig Zeit zu zweifeln? Am Ende der zehnten bzw. der dreizehnten Klasse steht sehr gewiss eine Entscheidung, der sich die Jugendlichen stellen müssen.

 

Ich habe das Zitat nicht nur aus inhaltlichen Aspekten, sondern auch wegen recht nahe liegender Bezüge zum Autor ausgewählt.
Die Voltaire-Gesamtschule in Potsdam, an der ich seit 1998 unterrichte, hat sich mit Blick auf das hier behandelte Thema auf den Weg gemacht. Ganz im Sinne des Zitats ging es uns darum, Zweifel als legitim anzuerkennen, keine fertigen Lösungen zu bieten, aber den Schülerinnen und Schülern die Chance einzuräumen einen eigenen Weg zu finden.
Neben Schülerfirmen, Praktika, dem Fach "Medien und Kommunikation" in Sekundarstufe I und II gibt es eine besonders bemerkenswerte Initiative. Eltern riefen mit Hilfe des Fördervereins das Projekt "Schule konkret" ins Leben. In Workshops im Rahmen des Programms "Ganztagschulen gestalten" der Stiftung der deutschen Wirtschaft wurde das Konzept verfeinert. Es sieht regelmäßige außerschulische Angebote für Schülerinnen und Schüler aller Alterststufen vor, die eine Berufsorientierung unterstützen können.

 

Zweifel mögen keine sehr angenehme Voraussetzung sein, aber sie sind notwendig, um zu Lösungen zu kommen, die vielleicht länger Bestand haben als ein Lehrjahr oder ein Semester.

Vita Jens Knitel

  • Lehrer für Deutsch, Geschichte, Medien und Kommunikation an der Voltaire-Gesamtschule in Potsdam (seit 1998)
  • Mitarbeiter des Netzwerks Zukunft. Schule + Wirtschaft für Brandenburg (Abordnung, seit 2002)
  • 1990 - 1996  Studium der Fächer Deutsch und Geschichte an der Universität Potsdam (1996/1998  erstes bzw. zweites Staatsexamen)
  • geboren in  Pritzwalk
  • lebt in  "wilder Ehe", zwei Töchter (2 und 6 Jahre)
  • engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzender des Wassersportvereins Glindow
  • Interessen: Medienpädagogik, Segeln

Fragen und Meinungen zum Text gerne an knitel@~@web.de

 

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM