Zitat Juli 2007

Zitat Juli 2007

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners."   (Heinz von Foerster*)

Die Bitte, einen Beitrag für den Bildungsserver unter der Rubrik "Zitat des Monats" zu schreiben, löste bei mir Gedankenhektik aus.
Einige Zitate aus der Schulzeit hatte ich noch im Kopf, z. B. von Wilhelm von Humboldt, Johann Wolfgang von Goethe, Tagore usw. - diejenigen, an denen man sich damals (60er Jahre) im Deutschunterricht in der Erörterung übte, diejenigen, die humanistisch orientierten und Wege aufzeigen sollten.
("Unsere Wünsche sind die Vorboten der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten im stande sein werden." J. W. v. Goethe).
Gleichzeitig und irritiert merkte ich, dass - wenn hier ein Bezug zum eigenen Leben hergestellt werden und damit die Intention des Monatszitats ernst genommen werden soll - dies mit mir nicht so viel zu tun hat. Also: die Gedankenhektik dauert weiterhin an.
Zu Hause wird der Bücherschrank bemüht: Brecht, Wilde, Hesse. Au weh, die Zeit ist nicht da, quer zu blättern; so viel Lieblingsliteratur, in der man gleich weiterlesen will, kein Zitatfavorit in Sicht - da fällt mir mein altes Poesiealbum ein. Es ist gut angereichert mit Sprüchen, die Klassenkameraden und engste Verwandte richtungsweisend, gut gemeint für mein Leben, als brauchbare Orientierung auffüllten. Die Herausforderung, das Album kurzfristig zu finden, ist irgendwann gemeistert: jetzt kann ich endlich blättern und werde hoffentlich fündig!
"Wie du die Welt ansiehst, so sieht sie dich wieder an!" schreibt Tante Lucie gleich auf der ersten Seite am 02.04.61. Recht hat sie gehabt! Leidvoll habe ich den Wahrheitsgehalt des Spruchs immer wieder erfahren müssen.
"Bete und arbeite und lerne leiden, ohne zu klagen!" schreibt der Großvater. Das passt nicht so ganz. Also weiter suchen. Was schreibt die Russischlehrerin? "Es gibt keinen wahrhaftigeren Weg zum Glück, als den Weg durch freie Arbeit!" (Gorki). Dies spricht mich schon an. Aber was heißt "freie" Arbeit?
Jetzt nähere ich mich dem Teil, den die Klassenkameraden schrieben. Dazu sei gesagt, dass ich in einem kleinen Ort nahe Potsdam aufwuchs. In diesem Ort gab es ein Kinderheim. Meine Klasse bestand zur Hälfte aus Kindern dieses Heims. Sie waren schwierig, sehr verschlossen, zum Teil aggressiv und faszinierten mich stärker als die Dorfkinder. 1948 oder davor geboren, hatten einige für längere Zeit keine Schule besucht; es waren einsame Nachkriegskinder mit zum Teil bedrückenden Schicksalen. Von Disziplin und Respekt keine Spur.
Da liegt er wieder vor mir, der Spruch, der mich - die damals 13jährige - fast umwarf. Mein Mitschüler Bernd schreibt mir ins Album: "Aus nichts wird nichts, das merke wohl, wenn aus dir etwas werden soll."
Lange habe ich damals darüber gegrübelt, wie dies gemeint war. Hat er mir so gar nichts zugetraut? Eine offene Feindschaft bestand meines Erachtens nach nicht; habe ich den Vers nicht verstanden? Zutiefst beschämt traute ich mich damals nicht, meinen älteren Bruder, der in alle wichtigen Belange meines Lebens einbezogen wurde, über diese diskriminierende Vorverurteilung zu informieren, ihn in die Interpretation der geheimnisvollen Botschaft einzubeziehen - oder habe ich mir gerade diese düstere Mahnung so zu eigen gemacht, um im Leben voranzukommen, schließlich zu studieren, zu promovieren? Es gibt keine Antwort auf diese Fragen und erfreut registrierte ich, was da aufbricht, so viele Jahre nach dem Poesiealbumeintragsalter.
Zurück zur Aktualität: Gibt es denn keine Zitate, die mir nicht nur gefallen, sondern zu denen ich eine Teilidentität herstellen kann?
Also weiter kramen im Bücherschrank: Lao Tse - zu abgehoben. Endlich fällt mir ein Heftchen in die Hände: Heinz von Foerster! Das ist es: "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners". Dies hört sich erst mal fürchterlich an, paradox und doch spiegelt es wider, was ich sofort unterstützen kann, nämlich dass es keine absolute Wahrheit gibt. Von Foerster ist Kybernetiker, Philosoph und Konstruktivist, er schafft seine Welt in jeder Situation neu. Denken in Gewissheiten ist den Konstruktivisten nicht vorstellbar - zumindest den Orthodoxen unter ihnen. Das Zitat interpretiere ich so, dass bei allen Vorgaben immer die Fragestellung erlaubt sein muss und die Skepsis am Gesehenen, Gehörten, Gelesenen. So wird die Erkenntnis wahrheitsumfassender angereichert. Aus dem Kaleidoskop unterschiedlichster Interpretationen, Wahrnehmungen, Vorgaben und Bestimmungen setzt sich die Welterklärung zusammen.
Ich konstruiere meine Welt. Mein Nachbar wird sie wieder anders begreifen, entsprechend seinen unterschiedlichen Erfahrungen und Beobachtungen, die sich wieder aus verschiedenen objektiven und subjektiven Gegebenheiten zusammenfügen. Gerade für junge Menschen ist es wichtig nachzufragen, einen kritischen Geist zu entwickeln, nichts als gegeben hinzunehmen. In einer Medienwelt der Manipulation, der Suggestion aber auch der Autosuggestion gilt es, den Dingen auf den Grund zu gehen. In meiner Zeit als Lehrerin, an der Humboldt-Universität aber auch in meiner gegenwärtigen Funktion wandte und wende ich mich gegen schnelle Urteile. Notwendig ist es, die Dinge zu hinterfragen, um schließlich zu einer gesicherten Meinung zu kommen, die gut begründet werden kann. Ein mühsamer Prozess, sich Erkenntniszuwachs zu sichern, der schließlich auch zur Wahrheit führt.
Die Meinung wie das Hemd zu wechseln, wird damit aussichtslos.


* Heinz von Foerster (geb. 1911 in Wien, gest. 2002 in Pescadero, Kalifornien) war ein österreichischer Physiker, Professor für Biophysik und langjähriger Direktor des Biological Computer Laboratory in Illinois. Er gilt als Mitbegründer der kybernetischen Wissenschaft und ist philosophisch dem radikalen Konstruktivismus zuzuordnen.
Mehr über ihn erfahren sie auf dieser Internetseite: de.wikipedia.org/wiki/Heinz_von_Foerster





Vita Dr. Doris Scheele

  • Geboren 1948 in Potsdam
  • Abitur 1967 in Potsdam
  • Studium der Polytechnik und der Rehabilitationspädagogik in Halle und Berlin
  • Lehrerin in Berlin und Potsdam
  • 1987 – 1990 Wissenschaftliche Aspirantur an der Humboldt-Uni Berlin
  • 1990 Promotion an der Humboldt-Uni Berlin, Fachbereich Rehabilitationspädagogik und Kommunikationswissenschaften
  • 1991 – 93 Dezernentin für Bildung, Jugend, Soziales und Gesundheit im Landkreis Potsdam
  • seit 1994 Leitende Direktorin des Landesjugendamtes Brandenburg
  • Vorstandsmitglied des Bundesverbandes für Erziehungshilfe e.V. (AFET)
  • Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter
  • Mitglied im Landesjugendhilfeausschuss des Landes Brandenburg

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM