Zitat Januar 2007

Zitat Januar 2007

Vita Dr. h.c. Hinrich Enderlein

  • geboren 1941 in Luckenwalde
  • sozialisiert in Westdeutschland (Hessen, Hamburg, NRW)
  • Studium (Geschichte, Politik, Slawistik) in Marburg und Tübingen
  • 1964–1990 wohnhaft in Tübingen, heute in Kleinmachnow
  • FDP-Politiker seit 1969
  • Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg 1972-1988
  • 1990-1994 erster Wissenschafts- und Kulturminister in Brandenburg
  • seitdem viele ehrenamtliche Tätigkeiten in Kultur und Wissenschaft, u.a. Vorsitzender des Landesverbandes der Musikschulen in Brandenburg

"Für eine Gesellschaft ohne Feindbilder"   (Max Frisch*)

 

 

Eine Gesellschaft ohne Feindbilder mag für manche eine Vision sein. Für viele ist sie sicher eine Illusion. Für mich ist sie ein Lebensmotto. Ich versuche danach zu leben und weiß deshalb, dass es nicht ganz einfach ist. Ich habe Bekannte, die teilen ihr persönliches Umfeld grundsätzlich in Feinde und Freunde ein. Und erstaunlicherweise reden sie mehr von ihren Feinden als von ihren Freunden. Manchmal habe ich den Eindruck, sie richten ihr Leben an dem Umgang mit ihren Feinden aus. Gegen die Feinde zu streiten, sich gegen sie durchzusetzen, gibt ihrem Leben einen wichtigen Sinn.

Wahrscheinlich ist es bei den meisten Erwachsenen nicht mehr möglich, Feindbilder abzubauen. Aber man kann versuchen, in der Erziehung darauf hinzuwirken, dass Feindbilder erst gar nicht entstehen. Eine Möglichkeit dafür ist der Umgang mit der Musik. Irgendjemand hat mal gesagt: Wer Geige spielt verprügelt keine ausländischen Jugendlichen. Aber ich meine das gar nicht so plakativ und direkt. Richtig ist, dass diese beiden Verhaltensweisen nicht so recht zueinander zu passen scheinen. Aber warum ist das so? Musizieren oder Musik hören sind zutiefst friedliche Tätigkeiten. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Der Höhepunkt des Musizierens ist das gemeinsame Spiel - zum Beispiel im Orchester.

Beim gemeinsamen Musizieren muss man sich mehr als bei den meisten anderen Tätigkeiten in andere Menschen hineinversetzen, versuchen sie zu verstehen, mit ihnen gemeinsam ein Stück zu erarbeiten, zum Klingen zu bringen. Und je besser das gelingt, desto größer ist der Erfolg. Es gibt natürlich auch Wettbewerbe - aber keine Gegner. Meist kennt man die Konkurrenten gar nicht. Und wenn jährlich Tausende von Jugendlichen um die Preise bei "Jugend musiziert" wetteifern, ist das immer auch ein Festival des Friedens.

Ich will die Musik nicht überhöhen. Sicher gibt es auch andere Wege zu Toleranz und Frieden. Und nicht jeder Musiker ist schon deshalb ein friedlicher Mensch, weil er Musik macht. Aber Musik kann da sehr viel leisten, mehr vielleicht als andere Disziplinen. Und deshalb gehören die Musik und das Musizieren an eine der ersten Stellen jeder Bildung - und das schon im frühesten Alter. Jedes Feindbild, das gar nicht erst entsteht, macht unser Zusammenleben friedlicher - und das national genauso wie international. Das von Daniel Barenboim ins Leben gerufene Projekt eines israelisch-palestinensischen Jugendorchester sollte den Friedensnobelpreis erhalten.

 

 


* Max Frisch (geb. am 15. Mai 1911 in Zürich; gest. am 4. April 1991, ebenda) war ein schweizerischer Schriftsteller und Architekt. Er gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Nachkriegszeit.

- 1976 erhielt Max Frisch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, in seiner Dankesrede setzte er sich mit Feindbildern auseinander; diese ist auf der Internetseite des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels nachzulesen.

- Weitere Informationen zu Max Frisch und seinem Werk finden Sie auf der Internetseite des Suhrkamp-Verlages, wo Frischs Bücher erschienen sind.

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM