
„Es gibt kaum eine geschichtliche Untersuchung, kein Lehrbuch ohne wertende Stellungnahmen, keine Geschichtsstunde verläuft ohne Werturteile.“ (Weymar 1972, S. 327)1
Diese Seite möchte im Überblick über Urteilsbildung mit Geschichtsunterricht informieren. Aspekte der Urteilsbildung wie die Problem- und Aufgabenstellung, die Kompetenzentwicklung sowie die Leistungsmessung und -bewertung bilden Schwerpunkte der Seite. Hinweise auf zeitgenössische didaktische Ansätze und auf digitale Werkzeuge ergänzen das Angebot.
1 © Weymar, Ernst, 1972. Werturteile im Geschichtsunterricht, S. 326-350. in: Süßmuth, Hans (Hrsg.). Geschichtsdidaktik ohne Zukunft?
Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1972.

Urteile sind individuelle, komplexe und auf Kriterien basierende Stellungnahmen zu Problemstellungen im Geschichtsunterricht. Sie fordern die Lernenden in besonderem Maße heraus, wenn Sie nicht bloßen Übernahmen von Positionen aus dem Fachunterricht entsprechen sollen.
Für Lehrende steht meist zunächst die Frage im Raum, wie eine Problemstellung in Form einer Themen- oder Leitfrage passgenau formuliert und die Aufgabenstellung so gestaltet werden, dass die Aufgabe einen passenden Operator enthält und beide Ebenen des Urteils, Sach- und Werturteil, adressiert werden.
Für Lernende (und Lehrende) stellt sich die Frage, mit welchen sprachlichen Mitteln und in welchem formalen Rahmen Urteile zu bilden sind? Auch die Unterscheidung von Sach- und Werturteil fällt den Lernenden meist schwer.
Zur langfristigen Erlangung von Urteilskompetenz muss nicht zuletzt die Frage nach einer progressiv verlaufenden didaktischen Planung über die Jahrgangsstufen hinweg beantwortet werden.

In der Abbildung wird eine Auswahl didaktischer Ansätze der letzten 20 Jahre im Bereich der historischen Urteilsbildung gelistet. Den Link bzw. die Literaturangaben finden Sie nebenstehend. Um den Umfang dieser Informationsseite in einem geeigneten Rahmen zu halten, werden diese Modelle hier nicht vorgestellt. Es empfiehlt sich jedoch, sich eingehend mit diesen Modellen auseinanderzusetzen.
Kayser, J./Hagemann, U., 2010. Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, Berlin.
Boxtel, Carla van/Drie, Jannet van: Historical ReasoningConceptualizationsand Educational Applications. In: The Wiley International Handbook ofHistory Teaching and Learning, New York, 2018, S.149-176 (Hrsg. Metzger, Scott Alan/McArthur, Harris, Lauren), verfügbar unter: https://pure.uva.nl/ws/files/55075139/van_Boxtel_van_Drie_2018_Historical_Reasoning.pdf (Zugriff am: 26.10.2023)
Winklhöfer, Christian, 2021. Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main, Wochenschau Verlag.
Die Aufgabenstellung für historische Urteile steht in enger Verbindung zur Problemstellung. Eine Leit- bzw. Problemfrage kann dazu gemeinsam im Unterricht entwickelt oder vorgegeben werden (Thema-Frage oder Frage-Thema). Die Frage selbst kann ein- oder mehrteilig sein und enthält mindestens eine Kategorie, die das Thema spezifiziert. Dies ist wichtig für die Bestimmung der Urteilsdimension(en) und für die Verringerung der inhaltlichen Streuung von Urteilen gegenüber der Aufgabenstellung.
- Kategorien der Analyse: Perspektivität, Intensionen des Materials
- Kategorien des Sachurteils: fachspezifisch Herrschaft, Kosten-Nutzen-Gewinn, Täter-Opfer, Rechtmäßigkeit; fachübergreifend Ursache-Wirkung, Erfolg-Misserfolg, Kontinuität-Wandel, Lösbarkeit-Unlösbarkeit, Wirklichkeit-Möglichkeit, Effizienz
- Kategorien des Werturteils: Plausibilität-Legitimität bzw. mit gegenwärtigen (und individuellen) Normen begründete Zustimmung-Ablehnung
Die zu entwickelnde Themen-/Leitfrage und die Aufgabe müssen die erwartete Leistung und die Quellenbasis durchgängig berücksichtigen. Themen- bzw. Leitfrage greifen demnach gedanklich soweit vor, dass sie einen möglichst großen, sachgerechten Argumentationsspielraum der Lernenden - für Sach- und Werturteil - ermöglichen. Zudem kann die Aufgabenstellung den nachfolgenden Kommunikations- und Reflexionsprozess der Lernenden über ihre Urteile (Metaurteile, Diskussion, Selbstreflexion usw.) einschließen.
Die (Teil-)Aufgabe wird durch einen Operator eingeleitet, der idealerweise beide Urteilsebenen adressiert. Entsprechend den EPA (2005, S. 7f.) eignen sich insbesondere:
- Nimm Stellung zu... / Nehmen Sie Stellung zu...
- Setze dich auseinander mit... / Setzen Sie sich auseinander mit...
- (Über)Prüfe... / (Über)Prüfen Sie...
Zur schrittweisen Erlangung der historischen Urteilskompetenz sind die Aufgaben dem Stand der Lernenden und der notwendigen Progression anzupassen. In der Sekundarstufe können Aufgaben zur Urteilsbildung explizit vorgegeben werden und zum Beispiel bei der Einführung von Werturteilen ausschließlich darauf abzielen. In der gymnasialen Oberstufe sollten umfassendere, am Abitur orientierte Aufgabenformate mit übergreifenden Operatoren und Teilaufgaben zunehmend gestellt werden.
Beispiele
- Jahrgangsstufe 7 - Beispielthema: Rechte von Frauen in der spätmittelalterlichen Stadt (in Mitteleuropa); Übungsaufgabe zur Sachurteilsbildung (Niveaustufe D/E)
Die formale Gestaltung von Sachurteilen ist den Lernenden bereits bekannt. Die Aufgabe folgt einer einfach gehaltenen Themenfrage, die bei der Bearbeitung jedoch eine differenzierte Argumentation und ein klare individuelle Stellungnahme erfordert.
Frauen in der spätmittelalterlichen Stadt – ohne Rechte und Einfluss?
Setze dich mit dieser Frage auseinander.
Eine weitere Fokussierung auf Kategorien wie die politische oder soziale Rechtsstellung ist als Ergänzung der Themenfrage bei guter Materialgrundlage und in der Urteilsbildung bereits geübten Lernenden möglich.
- Jahrgangsstufe 9 - Beispielthema: NS-Weltanschauung und Jugenderziehung; Festigung der Werturteilsbildung (Niveaustufe E/F)
Zur Festigung der Bildung von Werturteilen (Nievaustufe E/F) eignet sich die nachstehende Themenfrage mit einer angeschlossenen Aufgabe. Der Aufgabe vorangehen könnte die Sammlung erster (Voraus-)Urteile zu Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Werten der Erziehung in der NS-Diktatur und in der Gegenwart im Unterrichtsgespräch. Eine weitere Hilfe im Vorfeld zur Verdeutlichung kriterienbasierten Arbeitens bietet die Besprechung einzelner Artikel des Grundgesetzes (z. B. Artikel 3).
Die Erziehung von Jugendlichen in der NS-Diktatur – Ungleichheit und Ungleichberechtigung als Ideal?
Bewerte die Vorstellungen zur NS-Erziehung der Jugend. Ziehe dazu gegenwärtige Werte und deine Vorstellungen von Erziehung heran.
- Gymnasiale Oberstufe, Leistungskurs - Beispielthema: Umsetzung der Potsdamer Beschlüsse am Beispiel Demokratisierung und Denazifizierung
Die Themenfrage mit anschließender Aufgabe ist im Abituraufgabenformat gestaltet. Sie enthält einen übergreifenden Operator (darstellen) und nachfolgende Teilaufgaben, die nach Anforderungsbereichen (AFB) angeordnet sind. Eine definierte Urteilsdimension (Politik - Maßstab Verständnis von Demokratisierung im Potsdamer Abkommen) sowie eine Kategorie (Erfolg-Misserfolg) fokussieren individuelle Urteile zusätzlich. Im Urteil muss die sowjetische und die amerikanische Besatzungszone getrennt betrachtet werden. Im Fazit bietet sich eine Gegenüberstellung an, die danach in eine Antwort auf die Themenfrage mündet.
Die Praxis der Denazifizierung und Demokratisierung in der sowjetischen und in der amerikanischen Besatzungszone – erfolgreich auf dem Weg in eine demokratische Gesellschaft?
Stellen Sie in Form einer historischen Argumentation ihre Position zur oben genannten Themenfrage dar, indem Sie
.... (Teilaufgabe AFB 1),
.... (Teilaufgabe AFB 2),
ein begründetes Urteil zur Themenfrage unter dem Kriterium der Zielstellung der Demokratisierung durch die Potsdamer Konferenz formulieren.

Urteilsbildung sollte von Anfang an im Geschichtsunterricht eine wichtige Rolle spielen. Die Entwicklung historischer Urteilskompetenz sollte dazu progressiv mit dem Fach Gesellschaftswissenschaften in der Doppeljahrgangsstufe 5/6 beginnen und bis zum Ende der Sekundarstufe I angelegt sein bzw. bis zum Ende der Qualifikationsphase in der gymnasialen Oberstufe vertieft werden.
Für die Kompetenzentwicklung am Ende der Primarstufe (Doppeljahrgangsstufe 5/6) bzw. für die Sekundarstufe I weist der jeweilige Fachteil des Rahmenlehrplans Nivaustufen aus. Am Anfang steht die Fertigkeit der Lernenden, zwischen einem Vorausurteil und einem differenzierten (mit sachlichen, korrekten Angaben versehenen) Urteil zu unterscheiden. Die sich anschließende Entwicklung der Sachurteilskompetenz vollzieht sich von der inhaltlich und sachlich begründeten Antwort zu Problemfragen, über die differenzierte Argumentation hin zu einer kriterienbasierten, differenzierten und idealerweise selbstreflexiven Stellungnahme. Dem schließt sich die Entwicklung der Fertigkeit an, Werturteile zu formulieren. Dazu unterscheiden die Lernenden Sach- und Werturteile, machen sich problembezogen eigene Werte bewusst und eignen sich Grundwerte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung an.
In der gymasialen Oberstufe (GOST) sollte die Fähigkeiten zur Urteilsbildung die Unterscheidung zwischen Wert- und Sachurteil zunächst verstetigt und dann vertieft werden. Der Fokus ist dabei auf die formale und bildungssprachliche Optimierung, die Differenzierung und die Selbstreflexion eigener Urteile zu richten. Im Leistungskurs sollte zunehmend Stellung zu Problemhaftigkeit, Mehrdeutigkeit bzw. Kontroversität historischer Sachverhalten genommen werden.
Die Lernenden
- unterscheiden zwischen Sach- und Werturteil,
- beurteilen historische Sachverhalte sowie Hypothesen über Phänomene der Vergangenheit sachgerecht und differenziert (historisches Sachurteil),
- analysieren Herrschaftsformen, deren Legitimation und Akzeptanz,
- beurteilen Ursachen, Erscheinungsformen, Prozesse und Folgen historischer Ereignisse,
- erläutern Bedingungsgefüge, Erscheinungsformen und Auswirkungen von Konflikten in verschiedenen Epochen und Räumen,
- reflektieren unterschiedliche Positionen aus Vergangenheit und Gegenwart,
- setzen sich mit der Perspektivität von Geschichte auseinander,
- reflektieren den Konstruktcharakter von Geschichte,
- entwickeln und überprüfen eigene Deutungen von Geschichte,
- erkennen die jeweilige Gegenwartsabhängigkeit von Werthaltungen.
Die Teilkompetenz Urteilen und Sich orientieren ist am Ende der GOST dann ausgeprägt, wenn Lernende ausgehend von einem historischen Erkenntnisprozess, den Stellenwert historischer Sachverhalte leitfragenorientiert, methodengeleitet, materialbasiert, kontextsensibel, intersubjektiv bestimmen.


Die übliche Zugangsform zur historischen Urteilsbildung erfolgt über die Analyse des Materials. Es folgen auf der Grundlage der Befunde aus der Analyse Sach- und Werturteil (vgl. Jeismann 1978, S. 50-76.).
Die drei Phasen der Urteilsbildung lassen sich vor dem Hintergrund problem- und frageorientierten Geschichtsunterrichts sowie des Verständnisses von Urteilsbildung als kommunikativer Prozess weiter differenzieren (vgl. Winklhöfer, 2021, S. 22). Die einleitende Frage bzw. das vorliegende Material gibt zunächst Gelegenheit zur Vorab-Urteilen. In einer eingehenden Analyse und unter des historischen Kontextes werden deutende Schlussfolgerungen für das Sachurteil und unter Einbeziehung eigener Wertvorstellungen für das Werturteil ausgearbeitet. Die Lernenden nehmen in ihren Urteile expliziten Bezug auf die Fragestellung .

Historische Urteilskompetenz umfasst nicht allein das Urteil selbst. Zur Entwicklung dieser Teilkompetenz werden eine Reihe weiterer Fertigkeiten und Teilkompetenzen benötigt - beispielsweise im Bereich der Analyse und Deutung. Methoden wie etwa das Clustern von Sachargumenten oder deren Visualisierung in Mindmaps sind für Vorarbeiten von großem Nutzen - vor allem für komplexe, multikriteriale Urteile. Historische Urteilsbildung ist jedoch auch ein kommunikativer Prozess. Dieser beginnt bereits vor der eigentlichen individuellen Arbeit am Urteil. Voraus-Urteile zu historischen Problemstellungen bzw. Sachverhalten können Lernende im Vorfeld motivieren, sich mit ersten Gedanken zu äußern ohne zugleich formale, sprachliche und vor allem inhaltlich komplex und differenziert argumentieren zu müssen (jedoch ausdrücklich dürfen).
Die gesammelten ersten Gedanken lassen sich nach der Anfertigung individueller Urteile (selbstreflexiv) einsetzen. Lernende verstehen dadurch ihren eigene Erkenntnisprozess besser und verstehen die aufwendige Arbeit am historischen Urteil umso mehr.
Die historischen Urteile können im Anschluss präsentiert werden. In einer Phase des Austauschs und der Nachfrage werden sie idealerweise von Mitschülerinnen und Mitschülern in ihrer Argumentation hinterfragt bzw. bestätigt. Im weiteren Verlauf des Austauschs kommen Argumente und Perspektiven hinzu, die wiederum Selbstreflexion befördern können. Dazu eignen sich Anschlussaufgaben in Form von Metaurteilen (einzeln oder in Gruppen) oder Lerntagebucheinträge.


Leistungsmessung und -bewertung sollen stets kriterienbasiert, transparent und vergleichbar erfolgen. Historische Urteile von Schülerinnen und Schülern sind jedoch durch Argumentation und Fazit indivuell. Sie können daher vor allem nach der EInhaltung formaler Kriterien und nach der Plausilität des Inhalts bewertet werden.
Das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg hat Matrizes entwickelt, die zur kriterienbasierten Standardisierung und Erhöhung der Transparenz der Leistungsmessung und -bewertung von Urteilen im Geschichtsunterricht beitragen. Sie orientieren sich an der anvisierten Kompetenzentwicklung (RLP TEIL C 7-10 sowie RLP GOST). Die Kategorien in den Matrizes lehnen sich an die Plausibilitätskriterien nach Winklhöfer (sich wiederum auf Plausilitätskriterien nach Jörn Rüsen beziehend) an.
Es stehen drei Vorlagen zur Verfügung: für die Doppeljahrgangsstufe 7/8, für die Doppeljahrgangsstufe 9/10 und die Einführungsphase der gymnasialien Oberstufe (GOST) sowie für die Qualifikationsphase der GOST. Sie können demnach angepasst an die Jahrgangs- und die Niveaustufe (Sek. I) eingesetzt werden. Innerhalb der jeweiligen Matrix lassen sich einzelne Kriterien auswählen (Spalte 2 in der Vorlage), so dass bei der Leistungsmessung und -bewertung weiter differenziert vorgegangen werden kann.
Historische Urteilsbildung ist eine Methode im Kontext der Entwicklung der Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht.
Historische Urteilsbildung ist stets auch als Kommunikations- und Reflexionsprozess zu verstehen.
Der Subjektorientierung ist im Beurteilungsprozess Raum zu geben und als Ausgangspunkt für reflektierte, systematische Urteile zu nutzen.
Eine adäquate Aufgabenstellung mit einer Themen- oder Leitfrage ermöglicht sowohl Sach- als auch Werturteil.
Methoden wie Scaffolding, Visualisierungshilfen wie Concept-Maps, reale Problem- und Fragestellungen sowie pluraleQuellen als Grundlage unterstützen die systematische Urteilsbildung.
Urteilsdimensionen sind von den Lernenden in Sach- und Werturteilen stets offenzulegen, in Werturteilen individuelle Wertvorstellungen bzw. Maßstäbe zu begründen.
Leistungsmessung und –bewertung von historischen Urteilen erfolgen transparent und kriterienbasiert - wie die Bildung der historischen Urteile selbst.