Zitat März 2013

Zitat März 2013

Zitat März 2013

Wer viel redet, erfährt wenig
Sprichwort

Zuhören ist eine schwere Kunst. Die meisten Menschen wollen lieber reden. Manchmal wird man so intensiv zugetextet, dass man Kopfschmerzen bekommt. Es ist erstaunlich, wie viel manche Leute am Stück reden können. Schon rein atemtechnisch gesehen. Solchen Zeitgenossen macht es nicht das Geringste aus, auf einer Konferenz genau die Worte der Vorrednerin zu wiederholen. Wenn man innerhalb von Sekundenbruchteilen nicht auf ihre Fragen reagiert, geben sie sich selber die Antwort. Manche „Gespräche“ sind nur im Wechsel vorgetragene Monologe, bei denen die Beteiligten auf die Atempause des anderen und auf ihren erneuten Einsatz warten.  Von einem Schriftsteller wird kolportiert, dass er nach langem Monologisieren zu seinem Gesprächspartner sagte: „So, jetzt reden wir aber mal von Ihnen! –  Wie hat Ihnen denn mein neues Buch gefallen?“ 

Meine Oma sagte häufig: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Heute ist es eher umgekehrt. Selbstdarstellung scheint wichtig. Nur Reden zählt. Möglichst lautes. Aber zu viel Reden erstickt den anderen. In Zeitschriften werden neuerdings die introvertierten Menschen verteidigt: Auch ruhige, zurückhaltende Zeitgenossen könnten gute Ideen entwickeln und erfolgreich arbeiten. Erstaunlich, dass man das überhaupt konstatieren muss.

Viele Menschen können Schweigen nicht aushalten. Deshalb haben sie unentwegt ein Handy am Ohr und schicken existenzielle Botschaften ins All: „Ich fahre gerade U-Bahn.“ Sie begleiten im Kino und Theater die Handlung mit erhellenden Kommentaren: „Guck mal, jetzt kommt er schon besoffen zur Tür rein! Und er hat ein Messer in der Hand!“ Früher hielt ich den Begriff „Logorrhoe“ für einen Kabarettistenscherz. Aber es ist tatsächlich ein Krankheitssymptom: chronische Geschwätzigkeit, Sprechdurchfall.

Die neuen Medien bringen es – trotz aller immensen Vorteile – anscheinend mit sich, dass mehr und mehr Menschen sich am liebsten mit sich selbst beschäftigen. Eigentlich brauchen sie Ohren nur, um Kopfhörer daran zu befestigen.

In der Schule übt man bisweilen mit den Kindern aktives Zuhören. Wer den Ball oder den Kasper im Arm hält, darf reden. Die anderen sind still. Und hören zu. Das ist für einige  schwer zu ertragen. Nicht nur im Klassenzimmer…Aktives Zuhören setzt Interesse am anderen voraus – und Empathie. Man muss von sich selbst absehen und das wahrnehmen, was außer einem liegt. Man muss Ruhe und Geduld aufbringen, um dem anderen die Zeit zu lassen, die er braucht, seine Gedanken zu sortieren und zu formulieren. Man muss vielleicht mal eine Atempause lang warten. Man muss einen Moment lang auf Selbstdarstellung verzichten.

Im Klassenraum absorbieren laute, fordernde Kinder oft die ganze Aufmerksamkeit der Lehrer. Die Ruhigeren, vermeintlich Pflegeleichten laufen nebenbei mit. Wie oft steht in Zeugnisköpfen: „Ist zu still, beteiligt sich zu wenig am mündlichen Unterricht.“ Lehrer sollten nicht nur den Rededrang ihrer Schüler fördern, sondern auch auf Substanz achten. Häufig ist der einzige Stundenbeitrag eines ruhigen Kindes durchdachter und inhaltsreicher als zwanzig Wortmeldungen „extrovertierter“ Klassenkameraden. Wer viel redet, bekommt auch im Unterricht nur wenig mit. Manchmal sind Eltern von den Zensuren ihres Kindes enttäuscht: „Er hat sich doch immer so viel beteiligt!“  Auf einer Schülerwebsite habe ich den ultimativen Tipp für den Unterricht gefunden. „Lerne reden, ohne etwas zu sagen!“

Ich halte es lieber mit Dieter Nuhr: „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten!“


Gabriele Frydrych
ehemalige Lehrerin an Berliner Schulen und Autorin von Schulsatiren

Gabriele Frydrych

Gabriele Frydrych wurde 1952 in Jena geboren und lebt seit ihrem vierten Lebensjahr in Berlin. Dort lernte sie am Steglitzer Gymnasium ausführlich Latein und Altgriechisch und studierte an der Freien Universität Slawistik, Germanistik und Publizistik. Nach dem ersten Staatsexamen landete sie an einem pfälzischen Landgymnasium, weil in Berlin die Wartezeiten fürs Russisch-Referendariat drei Jahre betrugen. Von 1980 an quälte sie Schüler und Schülerinnen in Kreuzberg, Charlottenburg und Spandau. Vornehmlich an Gesamtschulen. Dort unterrichtete sie zwar nicht oft Russisch, dafür aber Deutsch, Musik, Tanz, Ethik, Geschichte und Erdkunde, was ihre Allgemeinbildung unheimlich erweiterte (hoffentlich auch die ihrer Klassen…).

Die Eindrücke, die sie in den verschiedenen Schulen, Fächern, Klassen und Kollegien gewann, hält sie seit vielen Jahren in ironischen Texten fest, die in diversen Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind.  Sie hat drei Bücher mit Schulsatiren veröffentlicht.

Hinweis

Die dargestellten Meinungsäußerungen in den Kommentaren zu den Zitaten des Monats widerspiegeln die Meinung des jeweiligen Autors und werden nicht vom Bildungsserver Berlin-Brandenburg inhaltlich verantwortet.

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM