Zitat Januar 2008

Zitat Januar 2008

Zitat Januar 2008

Bildung kommt von Bildschirm und nicht von Buch, sonst hieße es ja Buchung.     Dieter Hildebrandt (*1927), dt. Kabarettist

 

Jahreswechsel sind banal, nicht alltäglich, aber alljährlich.
Für mich eine Denkpause zwischen 23.50 Uhr und 00.10 Uhr, zwischen gelassener Routine und angespannter Erwartung - Wer weiß, was da kommt? - ungefähr die Zeit, die ich benötige, um meine Gedanken zu Dieter Hildebrandts satirischer Bemerkung darzulegen. Noch ist meine Weste im neuen Jahr weiß.
Selbstverständlich meint Hildebrandt genau das, was er sagt. Aber was sagt er eigentlich und was bzw. wen meint er mit dem, was er sagt?
Als fast "mittelalterlicher" Lehrer, 16 Berufsjahre, davon 14 an der Voltaire-Schule in Potsdam, gebe ich zu, dass ich mich beim Stichwort 'Bildung' krankhafter Weise immer direkt angesprochen oder provoziert fühle und dazu neige zu kommentieren oder zu rechtfertigen - eine chronische Berufskrankheit, die ich auch im neuen Jahr weiter auszukurieren gedenke.
Angesichts des sonst in anderen Zusammenhängen verwendeten Wortes "Buchung" ist Hildebrandts satirischer Impetus schnell erkennbar, mit dem er auf das in der Öffentlichkeit viel diskutierte Problem ?Bildung? anspielt - nicht primär schulische, aber auch. Das Wortspiel entlarvt seine Intention.
Ein eigentlicher Vorwurf liegt seitens des Satirikers nicht vor, denn nimmt man ihn wörtlich, so stellt er auf der Textebene lediglich die These auf, dass 'Bildung' zurückzuführen sei auf den Bildschirm, also auf audiovisuelle und die so genannten neuen Medien und nicht auf die traditionellen gedruckten Medien. Da es jenes Medium aber vor 1920 nicht gab, es sich danach kontinuierlich verbreitete, bis es als die viel beschriebene moderne Computerwelt seit Beginn der 1990er Jahre boomt und eine feste Größe in wirtschaftlichen, schulischen und privaten Zusammenhängen darstellt, muss er auf heutige "Bildungs- oder Buchungszustände" anspielen, z. B. auf die Dominanz einer auditiv unterstützten Bildalphabetisierung zuungunsten einer gedruckten, stillen, auf Buchstaben basierenden. Die Konkurrenz von Medien existiert tatsächlich und die Rolle des Buches zumindest in der Erlebnis- und Erfahrungswelt z. B. Jugendlicher ist angesichts moderner Medienwelten in eine Krise geraten. Es hat sich schlichtweg "ausgebucht", um in der Lexik des Satirikers zu bleiben. Nüchtern betrachtet kann ich dieser realistischen Einschätzung durchaus zustimmen, weil ich einerseits die historisch gewachsene Resistenz u. a. von Schüler/innen bezüglich gedruckter Texte seit meinem Eintritt in die Lehrtätigkeit alltäglich erlebe und erfahre. Andererseits aber habe ich die Offenheit unterrichtlicher Verhandlungen mittels audiovisueller oder computergestützter Medien sowie Untersuchungen schätzen gelernt und als Variante des gemeinsamen Lernens und handelnden Bildens "gebucht".
Ob ich damit in den Augen des Satirikers oder der geschätzten Leser zu den "Bildungs- oder Buchungsexperten" gehöre, mögen beide selbst entscheiden. Meine einfache, aus der Perspektive der Medien betrachtete Bildungsformel lautet:

 

Das ist nicht die Relativitätstheorie unter den Bildungsformeln, aber für mich zumindest ein praktikabler Ansatz. Die Idee für das Aufstellen einer Bildungsformel habe ich übrigens "gebucht", nämlich nach der Lektüre des gedruckten Kurzweilers "Weltformeln. Das Leben ist eine Gleichung" von Craig Damrauer.
Mit Blick zurück auf den Satiriker Hildebrandt stelle ich fest, dass er bezüglich des Problems 'Bildung' womöglich nach "Buchungsfehlern" sucht. Stellt man sein Zitat in aktuelle Kontexte, in denen von  "Bildungsmisere" oder "Bildungsnotstand" gesprochen wird, dann verstehe ich auch sein Ansinnen, zumal Satire nach Tucholsky alles darf.
Wenn man sich aber mit einer Satire auseinandersetzt, muss  die Darstellung nicht nach ihrem Wortsinn genommen, sondern erst des in Wort und Bild gewählten satirischen Gewandes entkleidet werden, bevor beurteilt werden kann. Währenddessen man sich zu früheren Zeiten Hofnarren hielt, deren Kopf rollte, wenn sie es übertrieben, geht es heutzutage meist unblutiger zu, "leistet" sich die Gegenwart Satiriker wie Hildebrandt, um subtil auf gesellschaftliche Defizite anzuspielen.
Fazit:
Schon lange habe ich den Verdacht, dass Kabarettisten auf einem Elfenbeinturm leben, von dem aus sie sich über Welt lustig machen. Und in diesem Zusammenhang begleitet mich immer wieder das für mich traumatische  Märchen von "Rapunzel". Aber Dieter Hildebrandt wird kein Zopf mehr wachsen, und so stehe ich hilflos am Turmsockel und führe Selbstgespräche. Ab und an kommt einmal jemand vorbei.
Beim Korrekturlesen fiel mir auf, dass ich genau die Zeit benötigte, die ich ganz am Anfang frech als Denkpause zum Jahreswechsel unterstellte. Die Korrektur fand an einem Bildschirm statt und der kritische Leser soll selbst entscheiden, ob der Text auf "Bildung" oder "Buchung" zurückzuführen ist.
Mit dem aus meiner Sicht streitbaren Goethe wünsche ich:
"Im neuen Jahr Glück und Heil./ Auf Weh und Wunden gute Salbe./ Auf groben Klotz ein grober Keil./ Auf einen Schelmen anderthalbe."

Vita Sven Kantak

  • 1961 Geburt in Hennigsdorf (DDR)
  •  bis 1980 durchaus glückliche Kindheit und Jugend, abgeschlossen mit einem durchschnittlichen Abitur in einer langweiligen Fabrikstadt
  • 1980-1983 Wehrdienst, passiv erduldet und aktiv erlitten, aber Menschenerfahrungen unter besonderen Bedingungen gesammelt, auf die ich noch heute zurückgreifen kann
  • 1983-1988 vororganisiertes, aber im Detail aufregendes Studium an der Pädagogischen Hochschule ?Karl Liebknecht? in Potsdam, in den Sektionen Germanistik und Geschichte
  • seit 1990 Lehrer in den Fächern Deutsch und Geschichte
  • seit 1993 an der heutigen Voltaire-Schule in Potsdam
  • seit 1997 zusätzlich Lehrer für den Wahlgrundkurs "Medien und Kommunikation" in der gymnasialen Oberstufe

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM