Zitat November 2008

Zitat November 2008

Zitat November 2008

"Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen:
Wurzeln und Flügel."

Johann Wolfgang von Goethe

Es ist noch nicht lange her, da entdeckte ich diesen Spruch des Dichterfürsten auf einer Postkarte. Sie hing im Badezimmer - neben dem Spiegel - meines österreichischen Kollegen und Freundes Thomas Baschny, Koordinator des waldpädagogischen Europa-Netzwerks forestpedagogics.eu und Vater dreier Kinder.

Der weise Goethe hatte nicht nur erkannt, wie man Kinder dazu befähigen kann, ein erfülltes Leben zu führen. Er fand auch treffende Worte für die beiden entscheidenden Voraussetzungen dafür: Wurzeln und Flügel.

Wurzeln ? das sind für mich Traditionen und Werte und daraus abgeleiteten Prinzipien, Regeln oder Normen, aber auch Identitäten, die eine gute Erziehung wachsen lässt.
Sie muss früh beginnen, denn leider gilt auch: Was Klein-Hänschen nicht lernt, fällt dem Hans später schwer!
Als Förster weiß ich: Bäume mit starken, tiefen, gesunden Wurzeln stürzen nicht gleich beim ersten Orkan zu Boden ? sie werden sehr alt. Auch wir Menschen brauchen solche soliden ?Erdungen?, um selbst dann mit beiden Beinen fest am Boden zu bleiben und sicher stehen zu können, wenn uns in schwieriger Zeit das Leben einmal schüttelt und beugt. Diese Verankerung stellt auch sicher, dass wir uns nicht in Traumtänzereien verlieren, sondern selbstbewusst und verantwortungsvoll handeln können.
Starke Wurzeln schenken uns Gewissheit, Ruhe und Kraft.

Flügel ? das ist Goethes Gleichnis für die Visionen und Träume, Ziele und Pläne, denn Bodenhaftung allein genügt uns natürlich nicht. Sie lassen uns über das Alltägliche hinaus gehen, Bestehendes in Frage stellen und Neues erkunden, wägend wagen ...
Auch Höhenflüge sind dabei erlaubt, um nach Perspektiven Ausschau halten und Grenzen ausloten zu können.
Das Rauschen solcher Schwingen erfüllt unser Leben und gibt ihm Sinn ? Flügel tragen uns in die Zukunft.

Weshalb bewegen mich nun diese klugen Worte derzeit so stark, dass ich gerade dies Zitat auswählte? Lassen Sie mich einmal den Gedanken-Wirbel beschreiben, den es bei mir auslöste:

Die Waldpädagogik-Referenten unseres Märkischen Haus des Waldes berichten mir seit geraumer Zeit, dass die bei uns im Wald ankommenden Klassen unwissender (ich wage nicht zu sagen: dümmer), auf jeden Fall aber ?schwieriger? werden. Auch aus anderen waldpädagogischen Einrichtungen im Bundesland Brandenburg und ganz Deutschland hört man neuerdings solche Klagen.

Ich wollte das zunächst so pauschal nicht wahrhaben. Zu bekannt sind mir ?diese Jugend heutzutage ...? - Aussprüche schon der Altvorderen wie Aristoteles, Sokrates oder Platon.
Zu sehr erlebe ich es auch tagtäglich anders, wenn ich mit lebenstüchtigen, klugen und engagierten jungen Menschen zu tun habe, die als ?Zivis?, ?Ökis? oder Praktikanten bei uns tätig sind.

Dann entschloss ich mich vor einiger Zeit doch, dem Phänomen auf den Grund zu gehen.

Als ?Bücherwurm? begann ich dies mit der entsprechenden Literatur und las also (mir empfohlene) Bücher wie ?Warum unsere Kinder Tyrannen werden?, ?Generation Doof?, ?Verführt. Manipuliert. Pervertiert.? und ?Erziehen lernen?, ?Deutschland verblödet?, ?Lob der Disziplin? und ?Von der Pflicht zu führen?, ?Die Erziehungskatastrophe? ...
Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was dort drin steht (einiges halte ich für überzogen oder sogar falsch), dann haben wir in der Tat ein Problem. Es dürfte auch und vor allem eine Erziehungsmisere und damit eine Frage offenbar fehlender Werte-Vermittlung sein.

Es liegt mir fern, bei dieser Gelegenheit ?Lehrerschelte? zu betreiben. Ich arbeite mit vielen tüchtigen Pädagogen zusammen (kenne aber auch einige demotivierte, die ihre Klassen bei uns ?abzuladen? versuchen). Denn: Der gravierende Mangel an Erziehungsbereitschaft in unserer Gesellschaft scheint wohl besonders ?Elternsache? zu sein.

Ein Teil der Kinder wirkt überbehütet, ein anderer sich selbst überlassen. So oder so - immer seltener werden Kindern klare Aufgaben und Ziele gesetzt, Strukturen und Grenzen vorgegeben.
Die Folgen sind unübersehbar: Sprach- und Verhaltensstörungen, Konzentrationsschwächen und Disziplinlosigkeiten, Einsamkeit und Aggressivität, Fehlernährung ...
Und die Schule soll?s richten? Das kann sie allein unmöglich schaffen!

Was aber ist es, das vielen Eltern heute solche Schwierigkeiten bereitet, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen?
Ich kann nur vermuten: Sie sind wohl selbst Kinder (und damit Opfer) eines miesepetrigen ?Zeitgeistes?, an dem mir derzeit zwei Dinge besonders auffallen:

1. Große Teile der deutschen Gesellschaft erscheinen mir derzeit seltsam ziel- und perspektivlos, gleichsam ?flügellahm? (mir kommt dabei auch immer wieder das Wort dümpeln in den Kopf) und von Selbstzweifeln beherrscht.
Es scheint, als sei dabei vor allem unser Personalpronomen wir beschädigt: Wir mögen uns nicht, wir trauen uns nicht ... sind wir noch da?
Statt mutiger Blicke nach vorn triumphieren oft Rückwärtsschau, Besitzstandswahrung und Bedenkenträgerei, wird die veröffentlichte Meinung vor allem von Negativbotschaften beherrscht, heißt es vielerorts und immer wieder: Das geht nicht, das darf man nicht, das schaffen wir ja doch nicht ...

Hier ist gesellschaftliche Orientierung, sind Visionen als ?Sinnstiftung? gefragt! Solche hohen, aber dennoch erreichbaren Ziele orientieren, motivieren, stiften Ideen und Identität, bringen uns Erfüllung, Glück und Lebensfreude.
Das wir ist dabei wichtig, denn: Ein Menschenleben empfängt seine Bedeutsamkeit vor allem durch verantwortungsvolle Teilhabe an einem übergreifenden Ganzen.
Sich ins Ganze der menschlichen Gesellschaft einfügen heißt: Einen würdigen Lebensentwurf als Mensch pflegen und sich als Teil eines Gemeinwesens verstehen, Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung pflegen, Eigeninteresse und Fremdinteresse verbinden sowie das eigene Recht und das Recht der anderen wahren.
Sich ins Ganze der Natur einbringen bedeutet, dass wir uns als Naturwesen erkennen, in Verbundenheit mit ?Mutter Erde? leben und die (anderen) Naturkräfte nachhaltig nutzen.

2. Ziele, Visionen sind jedoch nicht alles. Menschen können nur dann aktiv, optimistisch und visionär handeln, wenn sie über ein stabiles Wertesystem verfügen.
Viele Grundeigenschaften wie Leistungsbereitschaft und Fleiß, Pünktlichkeit und Sorgfalt, Genüg- und Sparsamkeit (heute sehr aktuell ? die aus dem ?Leben auf Pump? resultierende Finanzkrise lässt grüßen!), Mut und ?Stehvermögen?, aber ganz besonders ?Wir-Tugenden? wie Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit, Bescheidenheit und Respekt, Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme wurden jedoch in den letzten Jahrzehnten einer ungezügelten Individualisierung geopfert.

 

Die deutsche Gesellschaft wirkt auf mich derzeit ?entwurzelt?. Sie hat sich von Zwängen und Dogmen, aus kulturellen Traditionen und geschichtlicher Einbettung, aus religiösen Normen, unbequemer Sozialkontrolle und Bindung lebenslanger Ehen ... weitgehend befreit. Das Leben wurde dadurch für den Einzelnen abwechslungsreicher, aufregender, mobiler, freier ...
Das eröffnete neue Räume. Die meisten fanden?s zunächst gut. Aber solche ?Entbindungen? lockern nicht nur lähmende Fesseln, sondern zugleich auch stützende ?Bodenhaftung?. Abwechslung und Aufregung auf Dauer sind nicht jedermanns Sache, denn sie bedeuten auch Unsicherheit, Stress, Kinderlosigkeit, Einsamkeit im Alter ...

Wenn jeder sich selbst der Nächste ist, steht einem wuchernden Anspruchsdenken die Unkultur kollektiver Verantwortungslosigkeit gegenüber.
Doch Freiheit und Verantwortung bedingen einander. Es ist auf Dauer nicht möglich, der Gemeinschaft und den nach uns Kommenden die unangenehmen Folgen unseres Tuns aufzubürden, die angenehmen aber privat zu vereinnahmen.
Es gibt nach MARTIN BUBER in diesem Zusammenhang ?Verantwortungs-Kreise?, auf die wir uns wohl allesamt (rück-) besinnen müssten:
a) Verantwortung vor uns selbst: Es gilt, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und dafür einzustehen, um Glück und ?Seelenruhe? zu erlangen.
b) Verantwortung vor der Familie und dem Freundeskreis: Als einzige soziale Gruppen, in denen man fast bedingungslosen Rückhalt und nahezu selbstlose Unterstützung erwarten kann, sollten sie begründet und erhalten werden.
c) Verantwortung vor dem Beruf: Kein ?Job? ist zu erledigen, sondern eine Berufung zu suchen und ihr nachzugehen, mit Leidenschaft tätig zu sein, Freude an schöpferischer Tat zu haben und dabei Erfüllung zu finden.
d) Verantwortung vor der Heimat-Gemeinde, dem Bundesland, dem deutschen Staat und der europäischen Gemeinschaft: Man sollte sich seiner Rolle als Bürger bewusst sein, das Staatswesen als Gemeinwesen begreifen und unterstützen ...
e) Verantwortung vor der globalisierten Welt: Weltbürger auf ?Mutter Erde? sein ? der höchste Anspruch!
Aber das klappt nur in dieser Reihenfolge!
Deutschland jedoch ist gegenwärtig wohl voll von ?Gut-Menschen?, welche vorgeben, die Welt retten zu wollen, dabei aber nicht einmal mit sich selbst und den Ehepartnern, Kindern, Nachbarn, Arbeitskollegen ... zurecht kommen können.

Meine Mutter (sie publiziert heute regelmäßig als Oma-im-Netz) hat mir, als ich noch ein Kind war, das schwierige Werte-Thema einmal mit einem einzigen Begriff erklärt: Nächstenliebe.
Sie sagte damals, man brauche eigentlich nicht 10 davon ? schon mit der Beachtung dieses einzigen Gebots könne man seinem Dasein eine gute Grundlage bieten. Auch ihre Definition jenes Wortes gab sie mir mit auf den Weg:
Was Du nicht willst, das man Dir tu?, das füg? auch keinem andern zu!
Ich habe diese Lektion niemals vergessen und denke heute:
Wäre das nicht ein wunderbares Erziehungsziel?

Sie werden nun fragen: Was hat denn ein Förster mit alledem zu tun?

Wenn viele Leute derzeit existenzielle Fragen nach Sinn, Wert und Zukunft haben, sind beim Finden von Antworten und dem Lösen sich daraus ergebender Aufgaben in erster Linie die Entscheidungsträger und Meinungsführer in Politik, Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Kunst und Kultur gefragt. Aber auch andere Menschen mit Einsicht, Lebensweisheit, Verantwortungsbewusstsein und Tatkraft sollten sich nun nicht versagen ? ich denke hier zum Beispiel an die vielen ?Unruheständler?.

Auch die Förster wollen sich dieser Situation stellen. Als Fachleute, die sich der nachhaltigen Bewirtschaftung des Waldes widmen und dadurch zum langfristigen Denken in Menschen- und Wald-Generationen befähigt sind, haben sie eine ganz besondere und in dieser Situation hochaktuelle ?Waldbotschaft? konzipiert: Waldpädagogik.

Was steckt hinter diesem Begriff?
Waldpädagogik ist waldbezogene Umweltbildung. Sie umfasst alle den Lebensraum Wald und seine Komponenten sowie Funktionen betreffenden Lernprozesse, die den Einzelnen und die Gesellschaft in die Lage versetzen, langfristig, ganzheitlich und dem Gemeinwohl verpflichtet und damit verantwortungsvoll sowie zukunftsfähig zu denken und zu
handeln.
Waldpädagogik leistet damit am Beispiel Wald einen Beitrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Mit ihren Kern-Botschaften Nachhaltigkeit, ?Doktor Wald?, und ?Wald macht Schule? fördert sie die Entwicklung von Achtsamkeit gegenüber der Natur, Verständnis gegenüber anderen Menschen und Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen. Waldpädagogik ist damit ein forstliches Angebot, die heute oft beklagte dreifache Entfremdung - von der Natur, von den Mitmenschen und von sich selbst - überwinden zu helfen.

Die erfolgreiche Entwicklung der auf Kinder / Schüler gerichteten brandenburgischen Waldpädagogik in den letzten Jahren beweist, dass diese ?Waldbotschaft? ankommt.
Der Grund dafür ist einfach: Die Märker lieben den Wald; er ist Teil ihrer Heimatkultur.
Über seine Nutz-, Schutz- und Erholungswirkungen hinaus interessieren sich in letzter Zeit besonders naturfern aufgewachsene Menschen für das ?Bildungsgut Wald?.
Neben faszinierendem Wissen über die Wunderwelt des Waldes suchen und finden sie hier auch ?Herzensbildung?, kommen zu Sinngebung und Überzeugungen.
Die Menschen merken: Jeder Gang zu ?Doktor Wald? vermag immer auch ein wenig Zuversicht zu geben, Hoffnung zu wecken, Mut zu machen sowie Ehrfurcht vor der Natur zu lehren und zu prägen.

Zahlreiche und besonders jüngere Leute sind heute allerdings durch die virtuelle ?Hightech-welt? aus Fernsehen, Computer & Co., fehlende elterliche Erziehung, Geschwisterlosigkeit ... betroffen und dadurch nicht nur weitgehend naturentwöhnt, sondern oft auch von den Mitmenschen isoliert und sich selbst fremd. Die ?Natur-Abstinenz? zeigt sich zum Beispiel in Erscheinungen wie dem ?Bambi-Syndrom" oder ?Schlachthaus-Paradox".
Durch diese Mehrfach-Isolation gelingt ihnen der erstrebte Zugang zum Wald als Bildungsort oft nicht mehr von allein. Sie nehmen Angebote des fachlich sowie mitmenschlich betreuten Walderlebens deshalb besonders dankbar an.

Die Nachfrage ist groß ? über 170.000 Menschen besuchen jährlich ca. 7.000 brandenburgische waldpädagogische Veranstaltungen. Es gibt hier an derzeit über 500 guten Adressen waldbezogener Umweltbildung 25 naturlehrmittel-gestützte Angebots-Kategorien mit interessanten Themen und unterschiedlichen Profilen.

Wen der Begriff Waldpädagogik irritiert - wir Förster sind natürlich Förster und auch dann noch lange keine Pädagogen, wenn wir zum ?gewusst wie? viele Fortbildungen  besuchen und uns wissenschaftlicher Analysen bedienen.
Umso wichtiger und eigentlich Voraussetzung für den Erfolg dieses ?Praxislernens im Wald? ist deshalb die stete Kooperation beider Berufsgruppen.
Wir freuen uns auf diese Zusammenarbeit und wünschen uns viele ?Lehrer - Förster - Tandems?!

Informieren Sie sich doch mal unter www.waldpaedagogik.info darüber, was wir alles zu bieten haben.
Und dann: Auf ins ?Grüne Klassenzimmer? beim ?Förster von nebenan?!

Vita Klaus Radestock

  • geboren 1951 in Halle/Saale
  • seit 1975 verheiratet mit Beate
  • drei Kinder: Jörg, Hans und Maria
  • Mutter Lydia ist die "Oma-im-Netz"
  • 1970 Abitur und Abschluss als Eisenhüttenfacharbeiter
  • 1975 Abschluss als Diplomforstingenieur an der TU Dresden; seitdem Förster in unterschiedlichen Funktionen im südlichen Umland von Berlin
  • 1978 Beginn des Aufbaues einer frühen Umweltbildungseinrichtung "Naturlehrkabinett Frauensee" (später "Märkisches Haus des Waldes")
  • 1979 Postgradualer Abschluss als Fachingenieur für Umweltschutz
  • 1990 Beginn des Aufbaus der brandenburgischen Waldpädagogik, seitdem Steuerung dieser forstlichen Dienstaufgabe im Land Brandenburg sowie Wahrnehmung von Aufgaben des brandenburgischen Artenschutzes im Wald

Redaktionell verantwortlich: Ralf Dietrich, LISUM