Grundlagen für einen gelingenden Rechtschreibunterricht
Grundlegendes zum Erwerb der Schriftsprache
Die zwei Lernwege des Schriftspracherwerbs
Grundsätzlich lassen sich Wörter beim Lesen und Schreiben auf zwei verschiedene Arten erschließen, nämlich entweder durch Auswendiglernen oder durch Anwendung orthografischer Regeln (Strategien), die wir uns teils bewusst machen, teils aber auch einfach unbewusst anwenden. Somit ist der Erwerb der Schriftsprache nicht nur komplex und langwierig, sondern er verläuft auch noch parallel über zwei Wege gleichzeitig. Diese beiden Wege steuern zwar auf dasselbe Ziel zu, aber sie führen dabei durch gänzlich unterschiedliche Landschaften. Deshalb ist es für Lehrkräfte wichtig, die grundlegenden Zusammenhänge zu verstehen und bei der Auswahl der Arbeits- und Übungsformen stets zu wissen, welchen der beiden Lernwege die gewählte Übung gerade eingeschlagen hat.
Der induktive Weg: Vom Auswendiglernen zur Mustererkennung
Das menschliche Gehirn ist aufgrund seiner Architektur bestens darauf eingerichtet, aus einer Vielzahl von Beispielen Regelmäßigkeiten und Muster abzuleiten. Was immer wir lang genug und häufig genug tun, lernen wir beinahe zwangsläufig immer besser, egal ob es um Schach, Fußball, Geige – oder ums Lesen und Schreiben geht. In der regelmäßigen Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand beginnt unser Gehirn automatisch, von den wahrgenommenen Einzelfällen zu abstrahieren und das immer wieder Ähnliche in den Einzelerfahrungen herauszufiltern. Im Laufe vieler Übungen entsteht so Expertise, die den Lernenden häufig selbst unbewusst bleibt: Ein Fußballer muss nicht den genauen Winkel seines Fußes zum Ball kennen, eine Geigerin muss nicht über den Fingersatz nachdenken – es genügt, sich die Melodie vorzustellen bzw. sich auf die Ecke des Tors zu konzentrieren, um unbewusst das Richtige zu tun.
Dieser sehr effiziente induktive Lernweg gelingt auch mit dem Grundwortschatz: Indem sich die maßgeblichen Regelmäßigkeiten unserer Schrift wiederholt in seinen Wörtern niederschlagen, erlaubt er Lernenden einen unbewussten Abstraktionsprozess, bei dem sie an der sichtbaren Oberfläche des Lernens nur einige Wörter auswendig schreiben lernen, mit der Zeit aber – und ohne es zu wissen – das Lernmaterial geistig neu organisieren und die darin befindlichen Regelmäßigkeiten und Muster erwerben.
Diese Muster sind das eigentliche Ziel der Arbeit mit dem Grundwortschatz. Denn ein Wort auswendig schreiben zu können, ist zwar hilfreich und entlastet beim Lesen wie beim Schreiben das Arbeitsgedächtnis, aber erst wenn Lernende die immer wieder ähnlichen Muster des Schriftsystems abstrahiert haben, hilft dieses neue Wissen auch bei der Erschließung unbekannter Wörter und potenziert den Lerneffekt. Deshalb ist es sinnvoll, dem Gehirn beim Lernen etwas auf die Sprünge zu helfen, nämlich mit dem zweiten Lernweg.
Der deduktive Weg – Vom Regelverständnis zur Mustererkennung
Die Regelmäßigkeiten und Muster, die unser Schriftsystem strukturieren, sind zwar komplex und greifen auf manchmal verwirrende Weise ineinander, aber das heißt noch lange nicht, dass sie unverständlich wären. Im Gegenteil hat die deutsche Schreibforschung eine ganze Reihe von Regularitäten und Ordnungsprinzipien entdeckt, beschrieben, geordnet und generalisiert. Die wichtigsten davon bilden die Regeln der deutschen Rechtschreibung und werden Lernenden im Laufe ihres Schriftspracherwerbs vermittelt.
Auch in den Wörtern des Grundwortschatzes manifestieren sich viele dieser orthografischen Regeln und können im Unterricht gezielt vermittelt werden. Dabei sind die orthografischen Zusammenhänge auf dem Niveau des Grundwortschatzes oft leicht, ja geradezu trivial zu verstehen – leider allerdings weit schwieriger im Schreibprozess anzuwenden. Denn eine orthografische Regel zu kennen, ist das eine, aber im richtigen Moment an ihre Prüfung und Anwendung zu denken, das ist etwas ganz anderes.
Die orthografiedidaktische Lernforschung hat immer wieder herausgearbeitet, dass es Lernenden oft erstaunlich schwerfällt, gelernte Rechtschreibregeln während des Schreibens anzuwenden. Grund dafür ist die Begrenztheit unseres Arbeitsgedächtnisses, das uns immer nur die Kontrolle über einen kleinen Ausschnitt unserer Wahrnehmung und unserer Handlungen erlaubt. Wer sich gerade voll auf das Schreiben eines Textes konzentriert und dabei nicht nur Auge und Hand koordinieren, sondern auch den geplanten Text im Hinterkopf halten muss, kann nicht einfach zusätzlich eine beliebige Menge von Rechtschreibregeln aktiv halten.
Aus diesem Grund kann die Vermittlung von Rechtschreibregeln im Unterricht den Schreibprozess nur mittelbar beeinflussen – nämlich immer dann, wenn Lernende gerade genügend Aufmerksamkeit frei haben, um die entsprechende Regel bewusst anzuwenden. Wenn etwas diktiert oder frei geschrieben wird, muss hingegen der mit Abstand größte Teil der Regelanwendungen bereits automatisch erfolgen – oder er wird vergessen. Die Vermittlung und Anwendung orthografischer Regeln gehört damit zur Übung, nicht zur Anwendung! Berücksichtigt man diesen Grundsatz, kann sie Lernenden gleichwohl helfen, auf ihrem primär induktiven Lernweg schneller und effizienter voranzukommen, und damit den Schreibunterricht optimieren.
Konsequenzen für einen gelingenden Rechtschreibunterricht
Die didaktische Fusion der Lernwege
Der induktive Weg ist einfach und sicher, aber langwierig und übungsintensiv. Der deduktive Weg ist schlüssig und generalisierbar, aber ressourcenhungrig und fehlerträchtig. Deshalb liegt der Königsweg bei der Vermittlung von Rechtschreibung in einer klugen Verbindung beider Wege, um ihre Vorteile zu nutzen und ihre Nachteile auszugleichen.
Gehen Sie dazu immer vom induktiven Weg aus, den Sie gemeinsam mit ihrer Lerngruppe um deduktive Kenntnisse anreichern – niemals umgekehrt. Denn das Ziel der Arbeit ist primär ein schriftsprachliches Können, erst sekundär ein orthografisches Wissen. Deshalb sollten Sie zum Beispiel bei der Einführung des Grundwortschatzes noch nicht allzu viel Wert auf die Vermittlung von Regelwissen legen, sondern die Lernenden immer wieder zur Übung des Grundwortschatzes einladen (Anregungen dazu finden Sie in den Materialien, bei den einzelnen Rechtschreibschwerpunkten und in der Methodensammlung). Erst wenn ein größerer Teil der Lernwörter sicher beherrscht wird, ist es für Lernende hilfreich, sich mit den dahinterstehenden Regeln auseinanderzusetzen und damit ihre geistigen Abstraktionsprozesse anzukurbeln. Zur richtigen Zeit vermittelt, kann das unbewusst angebahnte und durch die bewusste Auseinandersetzung im Unterricht gefestigte Muster ein erhebliches Lernpotenzial entwickeln und die Generalisierung auf unbekannte Wörter maßgeblich erleichtern.
Die entscheidende Frage ist damit, wann die Regelvermittlung mithilfe des deduktiven Lernweges wirklich hilfreich ist und nicht vielmehr als anstrengende Zusatzaufgabe erlebt wird. Eine generelle Einschätzung zu dieser Frage ist ohne Kenntnis der Lerngruppe und ihrer aktuellen Situation natürlich nicht möglich, aber zumindest gibt es einige diagnostische Hinweise, die die Entscheidung erleichtern: Wenn die Lernenden Ihrer Lerngruppe einen maßgeblichen Teil des Grundwortschatzes auswendig können, aber nicht in der Lage sind, die darin befindlichen Regelmäßigkeiten auch auf unbekannte Wörter zu übertragen, dann steht die Chance sehr gut, dass sie von der deduktiven Vermittlung orthografischer Regeln profitieren. Wenn sie hingegen einmal vermittelte Regeln zwar bei bewussten Übungen umsetzen, hingegen beim Aufschreiben von Diktiertem oder beim freien Schreiben missachten, dann benötigen sie mehr induktive Übung, da ihr Arbeitsgedächtnis offenbar gerade anderweitig beansprucht ist.
Eine gute Faustregel ist es, der induktiven Übung mindestens zwei Drittel der Arbeitszeit einzuräumen und die Vermittlung orthografischer Regeln gelegentlich einzustreuen und immer auf Phänomene zu beziehen, für die die Lernenden bereits einige Anwendungsbeispiele sicher beherrschen. Außerdem profitiert der Lernprozess von kurzen regelmäßigen Übungen deutlich stärker als von seltenen langen und darf darüber hinaus abwechslungsreich ausfallen und spielerische Elemente enthalten, solange diese Elemente das Lernen unterstützen und nicht untergraben.
Der Faktor "Motivation"
Der vielleicht wichtigste Faktor für den Lernerfolg in jedem Lernbereich – und daher auch im Schrifterwerb – ist die Motivation der Lernenden. Gleichzeitig sind die Klagen über mangelnde Motivation von Schülerinnen und Schülern fast genauso alt wie die Institution Schule selbst. Deshalb ist es wichtig sich zu verdeutlichen, was Motivation eigentlich ist – und vor allem: Was sie nicht ist.
Viele Lehrkräfte glauben, für eine gute Motivation müsse man Lernenden etwas Gutes, Besonderes oder Wichtiges in Aussicht stellen, also ihnen vielleicht die Bedeutung des Schreibens für den Schulerfolg vermitteln oder ihnen gar eine Belohnung in Aussicht stellen, wenn sie sich zur Arbeit bereit erklären, aber das ist ein fatales Missverständnis. Denn wirklich gute Motivation belohnt sich immer selbst und diese Selbstbelohnung kann nicht nur die Lernkurve in die Höhe treiben, sie kann auch buchstäblich abhängig machen – leistungsabhängig nämlich.
In punkto Motivation gibt es eine sich selbst verstärkende Wechselwirkung, die den Lernerfolg intensiviert, sofern sie einmal angekurbelt ist: Motivation verstärkt den Erfolg. Aber Erfolg verstärkt mindestens genauso stark auch die Motivation – und deshalb sind erfolgreiche Lernende auch immer motiviert zur nächsten Leistung, während das Umgekehrte nicht immer stimmt: Man kann auch mit hoher Motivation Misserfolge einfahren und dabei kräftig an Selbstvertrauen verlieren.
Die psychologischen Zusammenhänge hinter der Motivation sind ebenso einfach wie genial und wer sie verstanden hat, kann seine Lerngruppe leichter in die Erfolgsspirale führen: Wenn wir Menschen ein komplexes Verhalten an den Tag legen – egal ob wir ein Bild malen, einen Elfmeter schießen oder einen Text schreiben – dann erstellt unser Gehirn zunächst einen Plan und versucht im Anschluss, diesen Plan auszuführen. Wenn der Plan aufgeht oder sogar übertroffen wird, schüttet unser Organismus den Neurotransmitter Dopamin aus, der in uns zweierlei verursacht: Erstens wird unser Wohlbefinden angeregt, denn Dopamin bewirkt hoch positive Gefühle, die wir gern wieder und wieder erleben wollen. Zweitens aber ist Dopamin ein Lernbooster und bewirkt, dass unsere eben ausgeführten Handlungen gelernt, gefestigt und besser behalten werden. Darin liegt der geniale Trick der Natur: Das Wohlbefinden der Dopaminausschüttung bewirkt, dass wir genau diejenigen Verhaltensmuster lernen und wieder erleben wollen, die auch tatsächlich zum Erfolg geführt haben. Deshalb stimmt der Satz: Nichts macht so erfolgreich wie der Erfolg selbst.
Was bedeutet das für Sie bei der Arbeit mit Ihrer Lerngruppe? Es bedeutet zunächst: Vergessen Sie all die kleinen Belohnungen und Gimmicks, mit denen Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler bisweilen ködern wollen. Wer lernt, um im Anschluss ein begehrtes Spiel spielen zu dürfen, der macht sich keinen Plan fürs Lernen, sondern einen Plan fürs Spielen und versucht diesen Plan umzusetzen – mit der Folge, dass das Lernen zur Nebensache wird (das hilft bei schwer demotivierten Schülerinnen und Schülern schon auch, aber es ist alles andere als optimal). Viel besser ist es, wenn die Lernenden sich den Lerninhalt selbst zum Ziel machen und versuchen, dieses Ziel zu erreichen, denn dann wird der Lernstoff selbst zum Gegenstand des Erfolges und die Lernenden kommen aus Dopaminhunger zu ihm zurück, um die nächsten Erfolge und damit den nächsten Dopaminkick zu erleben.
Was heißt das konkret für Ihren Unterricht? Jedes Mal, wenn sich die Schülerinnen und Schüler Ihrer Lerngruppe an die Arbeit setzen, sollten sie einen möglichst konkreten Plan haben, was sie erreichen wollen. Und dieser Plan sollte so gestaltet sein, dass er realistisch erreichbar ist, um immer eine Dopaminausschüttungen bewirken zu können und damit gleichzeitig zur Selbstzufriedenheit, zum Lerngewinn und zum Leistungshunger beizutragen.
Der entscheidende Punkt beim Thema Motivation liegt also darin, dass sich die Lernenden ein realistisches Ziel setzen und versuchen, dieses Ziel zu erreichen: Ich habe in der letzten Übung 14 Fehler gemacht? Dieses Mal möchte ich bei höchsten 12 Fehlern bleiben. Ich habe die Schreibung von Wörtern mit „ck“ theoretisch verstanden? Dann möchte ich mindestens 7 Wörter mit dieser Schreibung finden und richtig aufschreiben. Ich habe die Wörter des Tages alle richtig aufgeschrieben? Dann möchte ich sie übermorgen wiederholen und noch vollständig beherrschen. Wenn es Ihnen über eine gewisse Zeit gelingt, dass sich die Schülerinnen und Schüler Ihrer Lerngruppe solche und ähnliche Ziele setzen und zu erreichen versuchen, wird die Arbeit mit dem Grundwortschatz Schritt für Schritt mit Erfolgen assoziiert und zu etwas Positivem, aus dem ich Wohlbefinden und Kompetenzerleben gewinnen kann – egal auf welcher Stufe ich einsteige. Wichtig ist nicht, wo auf dem Weg man steht. Wichtig ist, dass der nächste Schritt Spaß macht und in die richtige Richtung geht.
Der Faktor "Spiele spielen"
Die Tatsache, dass die Belohnung von Arbeitsleistungen durch Spiele unangenehme Nebeneffekte haben kann, weil stets ein Teil der Aufmerksamkeit auf dem Ziel „Spiele spielen“ liegt statt auf dem Lernprozess, bedeutet keineswegs, dass gute Arbeit im Rahmen des Rechtschreibunterrichts biederernst sein muss – im Gegenteil. Je mehr Schülerinnen und Schüler auf die Arbeit Lust haben, umso wahrscheinlicher schaffen sie sich ihren inneren Plan, den sie verfolgen und übertreffen wollen, und umso größer fallen die Lerneffekte aus. Wichtig ist lediglich, dass der erwünschte Lernprozess zentraler Bestandteil des Spiels ist und nicht etwa dem Spiel nur vorgelagert: Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob Schülerinnen und Schüler in einem kleinen Wettkampf nach möglichst vielen Wörtern mit Doppel-t suchen, um danach fünf Minuten früher in die Pause zu dürfen oder um möglichst viele Wörter mit Doppel-t gefunden zu haben.
Das Beste, was Sie erreichen können, ist, dass Lernende die Arbeit gern beginnen und anschließend mit dem Ergebnis zufrieden sind. Diese beiden Punkte sind oft leichter erreicht, indem man die Aufgaben nicht zu trocken präsentiert, sondern ein wenig Witz und Kreativität zulässt. Wenn Sie Wörter mit „ck“ suchen lassen, warum dann nicht gleich einen Satz daraus formulieren lassen und den witzigsten Satz mit einem Szenenapplaus honorieren? Wenn die Wörter der Woche am Freitag letztmalig präsentiert werden, warum dann nicht gleich noch ein kurzes Märchen erfinden lassen, in dem sie alle vorkommen? Wenn das schwierige Merkwort von allen aufgeschrieben werden soll, warum dann nicht auch mal in metergroßen Buchstaben mit Kreide auf die Gehwegplatten des Schulhofes oder vor dem Haus? Nachweislich merken sich Menschen das Besondere und Ungewöhnliche besser und intensiver als das ewig Gleiche. Das ist der Grund, warum Lernen von Abwechslung profitiert.
Allerdings sollten Sie es auch nicht übertreiben, denn Regelmäßigkeit und Bekanntheit schaffen auch Sicherheit und Ruhe. Und wenn Sie für jeden Lernschritt ein methodisches Feuerwerk abbrennen, passiert vor allem eines: Das Feuerwerk wird zur Normalität. Eine gute Faustregel ist es daher, mit einem Grundstock von Übungsmethoden zu arbeiten, den die Lerngruppe kennt und akzeptiert, und diesen gelegentlich durch kleine Ungewöhnlichkeiten zu durchkreuzen. In der Erfahrung merken Sie schnell, wie viel Abwechslung Ihre Lerngruppe wirklich braucht.
Redaktionell verantwortlich: Jan Steckmeister
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