Typischerweise durchlaufen Schülerinnen und Schüler im Erwerb ihrer Rechtschreibung verschiedene Stadien, die mit verschiedenen Strategien in Verbindung stehen und regelmäßig eine ganz bestimmte Abfolge haben – selbst wenn die Übergänge oft fließend sind:
Die orthografischen Strategien: das Silbenprinzip und die morphematische Strategien (Stammprinzip)
Weitere wichtige Prinzipien in der deutschen Rechtschreibung sind das lexikalische Prinzip (Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Worttrennung) und das syntaktische Prinzip (Interpunktion/Zeichensetzung, Großschreibung am Satzanfang).
Die logographische Strategie
Bereits vor Eintritt in die Schule können viele Kinder ihren Namen schreiben. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie wirklich wüssten, was sie tun, sondern lediglich, dass sie wissen, wie sie die Linien und Punkte zu setzen haben, die ihren Namen ausmachen. Auf der logographischen Stufe schreiben Lernende also eigentlich keine Buchstaben, sondern Wortsymbole und wissen nichts von der Zuordnung von Laut und Buchstabe. Es ist so, als ob sie ein chinesisches Zeichen schrieben, das eben aus diesen und jenen Strichen besteht, ohne dass der einzelne Strich etwas bedeuten würde.
Gerade im Anfangsunterricht kann die logographische Strategie Lernenden helfen, erste Wörter lesend zu erkennen und schreibend zu produzieren. Gerade für die 100 häufigsten Wörter kann das sehr sinnvoll sein und das Arbeitsgedächtnis entlasten. Mittelfristig besteht allerdings eine Gefahr: Wenn Lernende den Absprung zu höheren Strategien nicht schaffen, versuchen sie irgendwann den gesamten Wortschatz logographisch zu erfassen (also quasi als Schriftbild auswendig zu lernen), was früher oder später scheitert. Besonders gefährlich daran ist, dass diese Schülerinnen und Schüler lange Zeit unauffällig bleiben, weil sie ja scheinbar gut lesen und schreiben können. Aus diesem Grund muss die logographische Strategie früher oder später verlassen werden, denn kein Mensch kann sich die 300.000 Wörter des deutschen Wortschatzes einfach als Symbole merken.
Die alphabetische Strategie
Das ist auch gar nicht erforderlich, denn unser induktives Abstraktionsvermögen beginnt in der Regel sehr bald, die einzelnen Teilsymbole der Wörter als Buchstaben zu begreifen, also als Symbole für einen ganz bestimmten Laut: Wer die beiden markanten Spitzen des Buchstaben „M“ in Wörtern wie „MAMA“, „OMA“, „MANN“ und „MAUS“ immer wieder entdeckt und dabei erlebt, dass gemeinsam mit ihnen auch stets ein bestimmtes Lautereignis verbunden ist, der ist bereits auf dem besten Weg zur alphabetischen Strategie.
Die Korrespondenz aus Lauten einerseits und Buchstaben andererseits ist die Grundlage einer jeden Alphabetschrift und damit der Kern unseres Schriftsystems. Die Sprachwissenschaft beschreibt diese Grundlage über die sogenannte Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln (PGK), die nichts anderes sagen, als dass Laute und Buchstaben eine systematische Verbindung eingehen und damit die Buchstaben den Klang des Wortes symbolisieren.
Diesen Zusammenhang lernen Kinder im Anfangsunterricht kennen. Dabei werden die Konsonanten in der Regel etwas früher erworben als die Vokale, was mitunter zur sog. „Skelettschreibung“ führt, bei der Lernende nur die wichtigsten Konsonanten aufschreiben, sodass das „FAHRRAD“ zum „FRT“ wird und das „GEMÜSE“ zum „GMS“.
Das Grundverständnis für die alphabetische Strategie ist eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg zum Schrifterwerb und alles andere als trivial - denn Lernende müssen erst einmal bestimmte Prinizipien erkennen:
- Welche der vielen unterschiedlichen Lautereignisse werden mit einem gemeinsamen Buchstabensymbol kodiert? Ein „t“ nach „s“ ist phonetisch nachweisbar etwas ganz anderes als nach „f“ oder „p“.
- Oft wird ein Laut mit zwei oder mehr Buchstaben kodiert, z. B. „sch“
- oder ein Buchstabe stellt zwei Laute dar, z. B. „z“.
- Manche Buchstabenkombinationen werden je nach Kontext unterschiedlich ausgesprochen, z. B. der Ich-Laut und der Ach-Laut, die beide durch „ch“ kodiert werden.
- Darüber hinaus weicht unsere Schrift auch ständig von der alphabetischen Strategie ab, um höheren Prinzipien zu gehorchen (s.u.).
Aus diesem Grund ist es gar nicht schlimm und durchaus erwartbar, wenn Lernende eine Zeit lang den „Dezember“ zum „DETSEMBA“ machen und den „Sport“ zum „SCHBOAT“. Allerdings wissen wir heute, dass es nicht günstig ist, solche Schreibungen allzu lange zu tolerieren, weil sie rasch als falsche Schreibungen gefestigt werden und längerfristig mehr Probleme schaffen, als sie lösen. Eine gute Faustregel besteht darin, freies alphabetisches Schreiben einige Wochen zu akzeptieren, weil es den Lernenden das schöne, motivierende Gefühl gibt, bereits schreiben zu können, aber spätestens nach einigen Monaten zur folgenden orthografischen Strategie zu wechseln. Oft ist es eine gute Idee, die Lernenden einerseits für die korrekte lautliche Umsetzung zu loben, aber andererseits bereits darauf hinzuweisen, dass es da noch eine ganze Reihe von Regeln zu entdecken gilt.
Die orthografischen Strategien
Unsere Schrift ist über viele Jahrhunderte gewachsen, hat sich reichlich an Wörtern und Schreibungen aus anderen Sprachen bedient und ist zusätzlich durch viele Entwicklungen optimiert worden, die das Lesen für geübte Lesende erleichtern, aber das Schreiben – und den Schrifterwerb – erschweren: Denken Sie nur an die Zeichensetzung: Sie hilft nachweisbar bei der raschen, effizienten Entschlüsselung von Texten, aber sie erfordert einen langwierigen Erwerbsprozess, der für viele auch nach dem Abitur noch nicht abgeschlossen ist. Ganz ähnlich ist es mit vielen anderen Regeln unserer Schrift: Die Getrennt- und Zusammenschreibung hilft uns, zu erkennen, was als (zusammengesetztes) Wort verstanden werden soll, aber sie verlangt von uns auch, dass wir sinnvoll mit Leerzeichen umgehen lernen. Die Groß- und Kleinschreibung zeigt uns, wo der Kern der Nominalgruppe steckt, aber sie verlangt von uns, immer zu entscheiden, was ein Nomen ist und was nicht.
Im Grundwortschatz stecken insbesondere zwei wichtige Strategien, nämlich das Silben- und das Stammprinzip. Mit der Großschreibung der Nomen kommt noch das syntaktische Prinzip hinzu, das aber vom Grundwortschatz allenfalls angebahnt, aber noch nicht systematisch eingeführt wird.
Das Silbenprinzip
In der deutschen Sprache sind die Vokale besonders kniffelig, weil es von jedem Vokal eine lange (gespannte) und eine kurze (ungespannte) Version gibt, die aber mit demselben Buchstabensymbol ausgedrückt werden. So ist das "ü" in "Hüte" ein anderes "ü" als in "Hüfte". Eine Ausnahme bildet hier das langen„i“, das standardmäßig durch <ie> markiert wird und nur in Fremd- und Lehnwörtern als <i> auftritt.
Die deutsche Schrift kennzeichnet den Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen nur zum Teil, sondern macht sich einige Regelmäßigkeiten im deutschen Silbenaufbau zunutze, die als die Silbengesetze bekannt sind und von denen die wichtigsten beiden die folgenden sind:
- In Silben mit langem Vokal folgt kein oder höchstens ein Konsonant. Langvokalische Silben sind außerdem immer betont. Beispiel: Hase, Montag
- In betonten Silben mit kurzem Vokal folgen ein oder mehr Konsonanten. Dabei muss es sich nicht um die gleichen Konsonanten handeln wie z. B. in "Sommer", es können auch zwei verschiedene sein wie in "tanzen".
Aus den Silbengesetzen folgt für viele Anwendungsfälle schon eine eindeutige Schreibung und Aussprache: Folgt in der (betonten) Silbe kein Konsonant, wird der Vokal lang gesprochen, folgen zwei oder mehr, wird er kurz gesprochen. Unsicherheiten treten folglich nur auf, wenn genau ein Konsonant folgt.
Für diesen Fall hat die deutsche Schrift verschiedene Kennzeichnungsmittel entwickelt, mit denen die Vokallänge markiert werden kann, nämlich
- Doppelvokale (Boot, Saat, Teer) und Dehnungs-h (Wahl, Lehrer, nehmen) für lange Vokale und
- Doppelkonsonanten, <ck> und <tz> für kurze Vokale (hatte, Katze, Decke).
Im Laufe des Schrifterwerbs müssen Lernende die Silbengesetze und ihre Umsetzung durch die Längenmarker entdecken und umsetzen. Das sollte, wie oben erwähnt, vorrangig induktiv geschehen und durch deduktive Lernprozesse gelegentlich unterstützt werden.
Dabei kommt einer Form der „phonologischen Bewusstheit“ eine entscheidende Rolle zu, nämlich der klanglichen Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen, die Kinder in der Regel intuitiv beherrschen, aber sich nur durch spezielle Lernprozesse bewusst machen können: Praktisch alle Lernenden (auch die meisten, die Deutsch nicht als Muttersprache beherrschen) sprechen lange und kurze Vokale in den Wörtern richtig aus und beherrschen den Unterschied folglich. Aber wenn man sie bittet, zu sagen, ob der Vokal in einem Wort lang oder kurz ist, können sie oft nur raten.
Die Lösung liegt in kurzen, aber häufigen Hörübungen: Lassen Sie ihre Lerngruppe regelmäßig die Vokallänge vorgegebener Wörter raten und geben Sie Feedback, ob die Einschätzung richtig war. Nach wenigen Trainingsdurchläufen werden Sie feststellen, dass die Lernenden an Sicherheit gewinnen und den Unterschied hören lernen. Erst wenn sie diese Unterscheidung angemessen beherrschen, kann eine sinnvolle deduktive Einführung der Silbengesetze versucht werden. Andernfalls bleibt nur der induktive Weg.
Die morphematischen Strategien (Stammprinzip)
Im Gegensatz zum Silbenprinzip ist das Stammprinzip vergleichsweise leicht zu verstehen, wenngleich nicht leicht umzusetzen, zumal es vom Silbenprinzip überlagert wird. Das Stammprinzip ist auch als morphematische Strategie bekannt und sagt aus, dass Wörter, die aus demselben Stamm abgeleitet sind, auch möglichst gleich geschrieben werden sollen. Deshalb schreiben wir „Rand“ mit <d>, obwohl wir am Silbenausklang eigentlich „Rant“ sprechen. Deshalb schreiben wir auch „Häuser“ mit <äu>, statt mit <eu>, weil damit die Verwandtschaft zu „Haus“ stärker erhalten bleibt und der Leseprozess erleichtert wird.
In diesem Sinne ist das Stammprinzip viel leichter zu begreifen als das Silbenprinzip, aber es hat leider auch mehr Ausnahmen: Warum schreiben wir z. B. nicht „Ältern“, obwohl das Wort „Eltern“ etymologisch vom Stamm „alt“ abgeleitet wurde? Und warum schreiben wir nicht „Ereigniss“, obwohl der Plural doch „Ereignisse“ heißt? Und warum schreiben wir nicht „Fluß“, obwohl wir „fließen“ schreiben?
Bei letzterem Beispiel wird deutlich, dass hier das Silbenprinzip stärker ist als das Stammprinzip, denn der kurze Vokal in „Fluss“ führt zur Schreibung mit Doppelkonsonant. Dennoch ist die Beziehung von Stamm- und Silbenprinzip komplex und erfordert eine Menge Erfahrungen.
Das Silben- und das Stammprinzip bilden den Kern des Lernens mit dem Grundwortschatz in den Jahrgangsstufen 3 und 4. Sie sollten stets bereits induktiv aufgebaut sein, bevor der Unterricht deduktiv auf sie zu sprechen kommt. Denn die Regel allein nützt Lernenden wenig, sofern sie nicht durch vorherige Lernerfahrungen vorgeprägt ist und damit folgende Lernerfahrungen unterstützend begleiten kann. Aus diesem Grund dürfen Wörter, die dem Silben- und dem Stammprinzip gehorchen, schon lange vor der Einführung der zugehörigen Regeln im Grundwortschatz eine Rolle spielen und viele Kinder entwickeln bereits vor dem deduktiven Unterricht ein gutes Gefühl für beide Prinzipien – etwa wenn sie den Vokal in einem unbekannten Wort intuitiv richtig aussprechen und damit zeigen, dass sie den regelmäßigen Zusammenhang von Vokallänge und Konsonantenzahl bereits zu abstrahieren begonnen haben.
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Redaktionell verantwortlich: Jan Steckmeister
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