Formative Leistungsbeurteilung in der Schuleingangsphase - Einführung
Was bewirkt die formative Leistungsbeurteilung?
Richtig eingesetzt ermöglichen formative Leistungsbeurteilungen den Lehrkräften einen Einblick in die individuellen Lernwege der Schülerinnen und Schüler unmittelbar während des Lernens. Dafür können Fragen helfen, die Lernwege besser zu verstehen und die Planung der Lernangebote auf die individuelle Lernsituation abzustimmen, z. B.:
- Was ist das Ziel? Woran kann man es erkennen?
- Wie ist vorgegangen worden? Welche Stärken und Schwächen sind erkennbar?
- Was ist schon erreicht und was fehlt noch?
- Wo gab es Stolperstellen? Wo wurde etwas falsch gedacht oder gemacht?
- Was ergibt sich daraus für die individuelle Förderung und die weitere Unterrichtsarbeit?
- Welches ist der nächste Schritt?
Damit wird für die Lehrkräfte möglich, was John Hattie mit dem Begriff "visible learning"1 bezeichnet: den eigenen Unterricht mit den Augen der Lernenden zu sehen und sich in die Schülerperspektive hineinversetzen zu können. So kann ein tiefergehendes Verständnis für die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler entwickelt werden, weil die Rückmeldungen und Reflexionen der Lernenden die individuellen Lernwege sichtbar machen.
Die Schülerinnen und Schüler entwickeln bei der formativen Leistungsfeststellung ihre Kompetenzen zur Selbsteinschätzung und lernen, ihre Leistungen zunehmend genauer selbst zu beurteilen. Diese Fähigkeit zur Selbstbeurteilung ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen selbständigen Lernens. Selbstbeurteilung steht an der Spitze der vom Bildungsforscher John Hattie untersuchten, lernrelevanten Einflussgrößen.2 Schülerinnen und Schüler können zumeist recht gut selbst einschätzen, mit welchem Erfolg sie eine an sie gestellte Aufgabe bewältigen werden. Hattie selbst favorisiert für diese Lehr-Lernstrategie den Begriff "Schülererwartungen". Denn bei dieser Methode geht es darum, dass die Lehrkraft ermittelt, welche Erwartung die Lernenden selbst an ihre persönliche Lernleistung haben. Anschließend können die Lehrkräfte die Lernenden dazu ermutigen und anregen, ihre Erwartung noch zu übertreffen. Übertrifft eine Schülerin oder ein Schüler die persönliche Erwartung, erzeugt dies Vertrauen in die eigene Lern- und Leistungsfähigkeit, was sich wiederum positiv auf die Lernmotivation und den Lernerfolg auswirkt.
Kurz zusammengefasst
Auswirkungen formativer Leistungsbeurteilung
Formative Leistungsbeurteilungen können
- das Verständnis für individuelle Lernwege vertiefen,
- Kompetenzen zur Selbsteinschätzung entwickeln,
- Lernmotivationen stärken.
Welche Qualitätsmerkmale kennzeichnen die formative Leistungsbeurteilung?
Damit die positiven Auswirkungen der formativen Leistungsbeurteilung genutzt werden können, sollte bei den Instrumenten und Verfahren darauf geachtet werden, dass möglichst viele der folgenden Qualitätsmerkmale erfüllt sind.
Die Partizipation aller Beteiligten und ihr Austausch untereinander werden gefördert.
Verfahren und Instrumente zur formativen Leistungsfeststellung sind dadurch gekennzeichnet, dass nicht über die Schülerinnen und Schüler und ihre Leistungen kommuniziert wird, sondern mit den Schülerinnen und Schülern regelmäßig über ihre Lernentwicklung gesprochen wird und sie dabei als Gesprächspartnerin oder Gesprächspartner ernst genommen werden. Dabei ist der Austausch zwischen den Schülerinnen und Schülern genauso wichtig wie die Gespräche mit der Lehrkraft.
Ziele und Kriterien sind von Anfang an allen bekannt.
Für die formative Leistungsbeurteilung ist ein gemeinsames Verständnis von Zielen und Erfolgskriterien wichtig. Für die Selbsteinschätzung muss jede Schülerin bzw. jeder Schüler wissen, um welche Ziele es geht und an welchen Kriterien zu erkennen ist, dass das Ziel erreicht ist. Deshalb wird nicht erst am Schluss eines Unterrichtsvorhabens, sondern gleich am Anfang durch Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern abgesichert, dass Ziele und Kriterien für sie verständlich und durchschaubar sind.
Die formative Leistungsbeurteilung begleitet die Schülerinnen und Schüler während des Lernprozesses.
Die formative Leistungsbeurteilung ist kein zusätzliches Lernangebot, sondern ein Teil der Lernaufgaben und begleitet die Schülerinnen und Schüler während des jeweiligen Lernvorhabens. Rückmeldungen, Lerngespräche und Selbsteinschätzung sind so angelegt, dass die Schülerinnen und Schüler die Informationen auf ihre aktuellen Lernprozesse beziehen können und sie als Unterstützung und Orientierung beim Weiterarbeiten nutzen können.
Im Mittelpunkt steht die individuelle Lernbegleitung.
Die Verfahren und Instrumente erfassen die unterschiedlichen Lernentwicklungen und machen die individuellen Lernfortschritte für die einzelne Schülerin bzw. den einzelnen Schüler sichtbar. Dabei geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre eigenen Stärken und Schwächen beim Lernen – ohne den Vergleich mit anderen – wahrzunehmen und ihre individuellen Entwicklungen einzuschätzen.
Die formative Leistungsbeurteilung vermittelt Wertschätzung und Anerkennung für die Arbeitsergebnisse.
Die Schülerinnen und Schüler können nur dann eine Leistungsbeurteilung annehmen, wenn dabei Wertschätzung und Anerkennung für die geleistete Arbeit ausgedrückt wird.
Damit ist kein pädagogisches Lob gemeint – im Sinne von Das hast du schön gemacht –, sondern Rückmeldungen über Stärken und Schwächen einer Leistung, die eine konstruktive Weiterarbeit fördern. Am Modell der Lehrkraft lernen die Schülerinnen und Schüler, welche Umgangsformen bei der Selbst- und Fremdeinschätzung angemessen sind.
Kurz zusammengefasst
Qualitätsmerkmale formativer Leistungsbeurteilung sind
- Partizipation aller Beteiligten
- transparente Kriterien
- Integration in den Lernprozess
- individuelle Lernbegleitung
- Wertschätzung und Anerkennung
Ist die formative Leistungsbeurteilung auch für die Schuleingangsphase geeignet?
Formative Leistungsbeurteilung ist keine Frage des Alters. Richtige Anleitung und passende Aufgabenformate vorausgesetzt kann sie von Anfang an – also auch in der Schuleingangsphase – genutzt werden. Auch ohne bzw. mit nur wenigen Lese- und Schreibkenntnissen können die Schülerinnen und Schüler Rückmeldungen geben, ihre Arbeit einschätzen und ihren Lernprozess reflektieren. Diese Kompetenzen helfen ihnen, ein positives Selbstbild zu entwickeln ohne übertriebene, unrealistische Anforderungen an sich zu stellen, und konstruktiv mit Fehlern umzugehen.
Schulanfängerinnen und Schulanfänger starten meistens sehr motiviert und mit hohen Erwartungen an sich selbst in der Schule – und doch kommt diese Selbstwahrnehmung häufig über kurz oder lang ins Wanken, weil sie ihren Anforderungen nicht genügen können bzw. unrealistische Vorstellungen von den Lernprozessen haben, z. B.: Morgen kann ich lesen. Eine lernförderliche Leistungsrückmeldung setzt am Können an, ermutigt und motiviert die Lernenden, sich mit ihrem Leistungspotenzial zu befassen. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei, sich zunehmend für ihr Lernen auch verantwortlich zu fühlen.
Um diese Kompetenzen zu erwerben, brauchen die Schülerinnen und Schüler nicht ab und zu einen Rückmeldebogen, sondern regelmäßige Lerngelegenheiten. Über Rituale, z. B. am Ende eines Tages, einer Woche, einer Trainingseinheit, eines Projekts werden den Lernenden von Anfang an Möglichkeiten aufgezeigt, die sie anregen, ihre Lernprozesse, Lernfortschritte und Lernerfolge auszutauschen und zu reflektieren. Sie können ihre Gedanken zum Lernen anderen mitteilen, aber auch notieren, dazu malen oder sich mit Symbolen oder Smileys positionieren. Beim ersten Nachdenken über Fragen wie
- Was kann ich schon?
- Was kann ich noch nicht so gut?
- Was will ich lernen?
- Was will ich noch üben?
lernen sie, zunehmend mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen.
Kurz zusammengefasst
Wichtig in der Schuleingangsphase sind
- passende und präzise Anleitungen
- altersangemessene Aufgabenformate
- kontinuierliche Regeln und Rituale
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1 © Hattie, John (2013) Lernen sichtbar machen, Schneider Verlag Hohengehren, S. 27 ff
2visible-learning.org/de/glossar-hattie-begriffe (Zugriff: 20.04.2021)
Autorin: © Mechthild Pieler
Redaktionell verantwortlich: Erna Hattendorf
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