Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
von Karin H. Grimme
"Hundsfott, wehr Dich!"
So rief Martin Mendelsohn, der erste Vorsitzende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) zum Kampf gegen den Antisemitismus auf. Wie es zu diesem ungewöhnlichen Aufruf kam, beschrieb er in der C.V.-Zeitung: „Es geht eine alte Legende, daß im dreißigjährigen Kriege ein Landsknecht schier unverwundbar gewesen sei. Mit ruhigem Muthe stritt er in Kampf und Noth. Dem Widersacher, der sich ihm feindlich entgegenstellte, trat er entschlossen und mit der festen Zuversicht des siegreichen Ausganges entgegen. Ansturm und Bedrängnis wehrte er mit der Sicherheit ab, welche das Gefühl der Ebenbürtigkeit mit dem Gegner, das Bewußtsein des eigenen Werthes verleiht. Und so blieb er stets unverwundet und heil. Das dankte er einem Amulett, das ihn niemals verließ und auf dessen Zauber, der in seinem Innern geborgen war, er mit aller gläubigen Zuversicht baute.
Während all der Sturm- und Drangjahre war es ihm nie zu Sinnen gekommen, erkunden zu wollen, was das Wesen der wirkenden Macht seines köstlichen Geheimnisses wohl wäre. Aber als sein unruhsames Leben zur Rüste ging, mochte der alte Krieger die Wißbegier nicht länger zähmen. Er mußte erfahren, welche unerhörte Kraft es sei, der er so großen Erfolg in seinem Leben dankte; und er zerbrach schließlich die Hülle, um nachzuschauen. Da war nichts Fremdes, nichts Geheimnisvolles darinnen; nur ein Wort stand geschrieben: ‚Hundsfott, wehr Dich!’“ (1895).
Auch die deutschen Juden, so meinte der Centralverein, sollten sich also endlich nicht mehr alles gefallen lassen, sondern sich wehren gegen ihre Feinde.
Arbeitsanregungen
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens befand sich vom Oktober 1905 bis zum November 1930 im Haus Lindenstraße 13. Dort waren die Hauptgeschäftsstelle, die Bibliothek, das Archiv und die Redaktion der Zeitung, die vom C.V. herausgegeben wurde. Im selben Gebäude hatten zwei andere deutsch-jüdische Organisationen ihre Niederlassung: der Philo-Verlag* und der Dachverband jüdischer Studentenverbindungen, der sogenannte K. C. (Kartell-Convent* der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens).
Die Gründung des Centralvereins war 1893 erfolgt. Den Anlass dafür hatten die Antisemitismuswellen der 1890er-Jahre gebildet, die eine neue Qualität im deutsch-jüdischen Verhältnis bedeuteten. Der Berliner Theaterdirektor Raphael Löwenfeld hatte auf den zunehmenden Antisemitismus reagiert, indem er eine Schrift mit dem Titel „Schutzjuden oder Staatsbürger“ publizierte und die neu entstehende Judenfeindschaft anprangerte. Er forderte die deutschen Juden zu Gegenmaßnahmen auf, um dem um sich greifenden Antisemitismus nicht hilflos zuzusehen. Zur Durchführung und Koordination solcher Gegenmaßnahmen wurde der Centralverein gegründet. Ein bereits existierender christlicher „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“* engagierte sich auf religiösem Gebiet. Aber der am Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehende Antisemitismus ging weit über die Fragen der Religion hinaus. Die Antisemiten sprachen von der sogenannten jüdischen „Rasse“, die durch das Blut festgelegt wäre und nichts mit der individuellen Religionszugehörigkeit zu tun hätte. Dabei wurden jahrhundertealte Klischees und Stereotype über das Verhalten und Aussehen jüdischer Menschen nahtlos übernommen. Die Definition bestimmter Eigenschaften als Rassenmerkmale brauchte deshalb nicht neu verbreitet zu werden. Aus diesem Fundus schöpften dann später auch die Nationalsozialisten ihre antisemitischen Parolen und Propaganda.
In den 1890er-Jahren litten die deutschen Juden unter dem aufblühenden Antisemitismus und unter der allgemeinen Diskriminierung in den deutschen Ländern. Mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die 1871 im neu gegründeten Kaiserreich Gültigkeit hatte, war zwar die rechtliche Gleichberechtigung der deutschen Juden erreicht, die praktische Umsetzung der Gleichberechtigung wurde allerdings den einzelnen deutschen Ländern überlassen und gestaltete sich sehr unterschiedlich. In den preußischen Ländern konnten Juden weder Beamte noch Offiziere werden, weil ihr „Deutschtum“ bezweifelt wurde. Es wurde infrage gestellt, ob sie dem Deutschen Reich gegenüber loyal und zuverlässig seien. Solche Zweifel wurden von den Antisemiten, die auch die bereits errungenen Rechte der Juden wieder rückgängig machen wollten, geschürt. Die Benachteiligung in gesellschaftlichen und sozialen Bereichen wirkte fort. Die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich war für die Juden, die seit Jahrhunderten in Deutschland lebten, deren Muttersprache deutsch war und die weitgehend angepasst an die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft lebten, eine Frage der Identität. Sie waren und fühlten sich als Deutsche und bemühten sich, ihre deutsche Identität zu beweisen.
Deutsche und Juden zugleich
Der Centralverein, der zunächst nur die Abwehr des Antisemitismus verfolgte, änderte im Laufe seines 40-jährigen Bestehens seine Zielrichtung und ging dazu über, eine positiv verstandene deutsch-jüdische Identität zu propagieren. Deutscher und Jude zugleich zu sein, eben deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, wurde das Idealbild ganzer Generationen. Das Judentum wurde oft lediglich als Konfession verstanden, ähnlich wie der Protestantismus oder der Katholizismus. Die Frage der Definition, was Judentum denn eigentlich sei, ein Volk oder eine Religionsgemeinschaft, führte seit 1912 zu anhaltenden Auseinandersetzungen mit den zionistischen Vereinigungen. Die Zionisten vertraten die Ansicht, dass es ein jüdisches Volk, ein jüdisches Volkstum gäbe, und setzten sich für die Gründung eines jüdischen Staates ein. Nur beim Ausbruch des I. Weltkrieges im August 1914, der von einer überwältigenden Mehrheit der Deutschen befürwortet wurde, hatte man den Streit zwischen Zionisten und C.V. vorübergehend beigelegt. Der Centralverein rief seine Mitglieder euphorisch zu den Waffen, da sich nun eine Chance zu eröffnen schien, ihr „Deutschtum“ im Kampf gegen die deutschen Gegner zu beweisen. Schon wenige Jahre später hatte sich diese Hoffnung bereits zerschlagen.
Der Centralverein behauptete wohl zu Recht, die Mehrheitsmeinung zu vertreten, denn über 60 % der deutschen Juden unterstützten die Arbeit des Vereins, und die C.V.-Zeitung war mit einer wöchentlichen Auflage von 75.000 in der Mitte der 1920-er Jahre die meistverkaufte jüdische Zeitung im Deutschen Reich.
Die Arbeit des Centralvereins
Seit seiner Gründung legte der C.V. einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf juristischen Beistand. In der Rechtsschutzstelle wurden Menschen, die aufgrund ihres Judentums diskriminiert worden waren, beraten. Es wurden Strafverfahren eingeleitet, zum Beispiel gegen Friedhofs- und Synagogenschändungen. Wenn es zu Prozessen kam, wurden die Angeklagten oft nur zu geringen Strafen verurteilt, da viele Richter antisemitischen Tendenzen wohlwollend gegenüberstanden.
Aber die Arbeit des Vereins ging noch weiter: Die Abwehrbereitschaft sollte mit den nötigen sachlichen Informationen gestärkt werden. Der C.V. setzte auf Vernunft und Aufklärung. Das entsprach den Einstellungen des liberalen, städtischen Bildungsbürgertums, aus dem der größte Teil seiner Mitglieder kam. Der enorme soziale und wirtschaftliche Erfolg der deutschen Juden am Ende des 19. Jahrhunderts hatte zu ihrem Aufstieg ins Bürgertum geführt. Die große Bedeutung von Bildung und die überdurchschnittliche Zahl an jüdischen Studenten, vor allem in den Bereichen Jura und Medizin, hatten dazu beigetragen, dass sich 60 % der jüdischen Familien in den mittleren und hohen Einkommensgruppen befanden und nur 5 bis 25 % der untersten Einkommensschicht zuzurechnen waren. Dementsprechend waren die Mitglieder des C.V.s überdurchschnittlich gebildete Bürger aus dem Mittelstand, die vorwiegend liberale Positionen vertraten.
Der langjährige Kampf des Centralvereins gegen den Antisemitismus beweist, dass die deutschen Juden nicht ahnungslos von den Nationalsozialisten überrumpelt wurden. Eine Reihe jüngerer Mitglieder des C.V.s beschloss 1929, dass ein aktiverer Kampf und stärkere Propaganda gegen die Nazis nötig seien. Sie gründeten das sogenannte „Büro Wilhelmstraße“* mit der Aufgabe, die NSDAP zu beobachten, Informationen zu sammeln und eine Gegenstrategie zu entwickeln. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war die Zeitung Alarm. Kampfblatt gegen Volksbetrug und Volksverhetzung. Für Freiheit und Recht. Für Wahrheit und Klarheit, die ab November 1929 erschien. Außerdem verteilte das „Büro Wilhelmstraße“ vor den Wahlen Flugblätter, Plakate und Handzettel. Alle diese Maßnahmen hatten keinen Erfolg: Der Kampf des C.V.s war spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verloren, auch wenn der Verein noch bis 1938 weiterexistierte.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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