Erich Mendelsohn – ein Architekt ohne Heimat?
von Horst Zeitler
„Gewiß, das primäre Element ist die Funktion, aber Funktion ohne sinnlichen Beistrom bleibt Konstruktion. Mehr als je stehe ich zu meinem Versöhnungsprogramm … Die funktionelle Dynamik ist das Postulat.“ So umschrieb Erich Mendelsohn sein architektonisches Anliegen in einem Brief an seine Frau. Er legte also großen Wert auf klare Anordnung einfacher geometrischer Elemente, dennoch lehnte er die kalte Nüchternheit ab.
Arbeitsanregungen
Die Architektur sollte innere Bewegung vollziehen und emotional wirken, an naive biologische Strukturen erinnern. Jedes Gebäude entwickelte er immer abhängig von der jeweiligen Bestimmung und Umgebung. Häufig ließ er sich bei seinen Entwürfen von der Musik inspirieren, vor allem von Bachs kontrapunktisch angelegten Fugen. So entstand zum Beispiel die Skizze für die Fassade des Verlagshauses Mosse unter dem anregenden Einfluss der Bach’schen Matthäus-Passion.
In Berlin hat Mendelsohn tiefe Spuren im Stadtbild hinterlassen, in der Lindenstraße und deren näherer Umgebung mit zwei Gebäudekomplexen: dem Mosse-Haus und dem heutigen IG Metall-Haus.
Das IG Metall-Haus
Das IG Metall-Haus liegt direkt am Schnittpunkt von Alter Jakobstraße und Lindenstraße. Unmittelbar gegenüber erstreckt sich das wuchtige Patentamtsgebäude als architektonischer Widerpart. Es ist als ein Glücksfall zu bezeichnen, dass zwei Gebäude mit so fundamental unterschiedlichen Bauauffassungen so direkt aufeinandertreffen: auf der einen Seite das ehemalige Reichspatentamt im Stil des Neobarock, erbaut von den Architekten Hermann Solfs (1856-1909) und Frank Wichards (1856-1919) von 1903 bis 1905, und auf der anderen Seite das Zentralgebäude des Deutschen Metallarbeiterverbandes, errichtet von 1929 bis 1930 durch Erich Mendelsohn im modernen „organischen“ Stil*. Man könnte diese Gegenüberstellung als Sinnbild der Auseinandersetzung deuten, die zwischen dem Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann* einerseits und den Architekten des „Rings“, einem Zusammenschluss von Architekten der klassischen Moderne wie Erich Mendelsohn, Mies van der Rohe*, Walter Gropius*, Hans Scharoun*, Hugo Häring* u. a. andererseits, erbittert geführt wurde: hier die traditionelle wilhelminische Repräsentationsarchitektur, die Stilelemente des Barock aufgreift, verwandelt und neu kombiniert und die weltlich-monarchische Macht symbolisiert. Dort die kühle, strenge Fassade, ohne ornamentale Schmuckelemente, konzentriert auf die Kraft der modernen Industriegesellschaft und den (sozial-)politischen Anspruch der Gewerkschaftsbewegung.
Man kann an dem Mendelsohn-Bau die Philosophie des organischen Bauens gut nachvollziehen, wenn man Baukörper und Innengestaltung genauer betrachtet. Dass Mendelsohn über eine reine funktionale Architektur hinausgeht, ist an der Grundform des Gebäudes am klarsten zu sehen: Von oben ähnelt es einem Segment eines Zahnrades (siehe Abbildung und folgender Internetlink: deu.archinform.net/projekte/8217.htm).
Der Bau besteht aus zwei Flügeln, die spitzwinklig auf den zentralen, eckbetonten Kopfbau zulaufen. Dieser ist herausgehoben durch seine Höhe und die konkave Einwölbung. Besonders auffällig ist der im obersten Stockwerk aus der Fassade sich herauswölbende, kanzelähnliche Fahnenmast. Während sich die unteren vier Obergeschosse durch ihre horizontal verlaufenden, durch waagerechte Rahmenunterteilung noch verstärkten Fensterbänder optisch ruhig in die Breite ziehen, hebt sich das oberste Stockwerk formal stark davon ab:
Die Fenster sind doppelt so hoch und in der Vertikalen noch einmal verstärkt durch die dreifache Fenstergliederung. Streng achsensymmetrisch ausgerichtet wölbt sich der runde, verglaste Erker daraus hervor. Diese vornehmlich horizontal ausgerichtete Bandstruktur der Fenster wird durch die vertikale Richtung der hochkant angebrachten Muschelkalkplattenverkleidung etwas gemildert. Links und rechts aus dem Kopfbau ausgelagert ziehen sich die beiden Flügel nach hinten, die streng waagerecht betont sind. Dort sind die Büros untergebracht. Im Kopfbau saß der Vorstand des Metallarbeiterverbandes. Der Versammlungssaal im obersten Stockwerk wird gekrönt durch den Fahnenmast, der wie eine Rundfunkantenne wirkt – ein Sinnbild für die moderne Kommunikation in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Versammlungssaal, in dem die beschlussfassenden Gremien tagten, verlaufen Deckenträger und Parkettmuster konzentrisch auf die Spitze des Gebäudes zu.
Während die Straßenfront einen stark hierarchischen Charakter aufweist, mildert sich dieser Eindruck deutlich, wenn man im Innenhof steht. Die Gebäudefronten sind glatt verputzt und weiß gestrichen. Im Zentrum steht das gläserne Treppenhaus in Halbzylinderform.
Bereits drei Jahre nach Vollendung des Baus zogen nationalsozialistische Nutzer ein: Nach dem Verbot der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten „übernahm“ Ende Mai 1933 die Deutsche Arbeitsfront (DAF)* das Gebäude. Im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges wurde es zerstört. Erst 1952 wurde das Haus renoviert und von der IG Metall wieder genutzt. Nach der „Wende“ 1989 wurde das Haus aufwändig restauriert und wieder in den Zustand seiner Entstehungszeit gebracht, sodass man den Baugedanken Mendelsohns heute fast unverfälscht nachvollziehen kann.

So wie das Gebäude einem wechselhaften historischen Schicksal unterworfen war, so vollzog sich auch das Leben seines Architekten, der drei Staatsbürgerschaften besaß. Erich Mendelsohn (geboren am 21.3.1887 in Olsztyn, ehemaliges Allenstein in Ostpreußen) emigrierte als ein vom Berufsverbot betroffener Jude bereits 1933 nach London, da seine Arbeit als „entartete Kunst“* gebrandmarkt wurde. Sein Vermögen wurde von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, sein Name aus der Liste des Bundes Deutscher Architekten gestrichen, seine Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste aufgehoben. Der bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreiche Architekt hatte Architekturgeschichte geschrieben, so zum Beispiel durch expressionistische Gebäude wie den „Einsteinturm“ des Astrophysikalischen Instituts in Potsdam und die Hutfabrik Steinberg, Hermann & Co. in Luckenwalde. Die Kaufhäuser Schocken in Nürnberg, Stuttgart und Chemnitz sowie das Warenhaus Petersdorff in Breslau begründeten seinen Ruhm als Architekt organischen Bauens: Streifenartige Gliederungen mit abgerundeten Ecklösungen waren sein Markenzeichen. Mit der Emigration nach London vollzog er zugleich innerlich den Bruch mit Deutschland: Er änderte 1939 seinen Vornamen in Eric, schrieb von nun an nicht mehr in Sütterlin, sondern in lateinischer Schrift.
Sein Leben lang war Mendelsohn Zionist, befürwortete also die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Die Entwicklung in Palästina fand er anregend und verlegte, nachdem er schon 1934 ein Büro in Jerusalem eröffnet hatte, 1939 sein Architekturbüro endgültig nach Palästina. „Der Orientale aus Ostpreußen“ wie er sich selbst scherzhaft nannte, wollte am neuen Palästina mitbauen. Als aber im Zuge des Zweiten Weltkrieges die Bautätigkeit in Palästina fast zum Erliegen kam und die Gefahr wuchs, dass die deutschen Truppen einmarschieren könnten (sie standen schon an der ägyptischen Grenze!), emigrierte er über Basra, Karatchi, Kapstadt und Trinidat 1941 nach New York. In den USA war er beratend für die US-Regierung tätig. Unter seiner Anleitung wurde ein Häuserblock in typisch deutscher Bauart realistisch nachgebaut, um die Auswirkungen von Brandbomben zu testen. 1945 siedelte er nach San Francisco über und widmete sich vornehmlich dem Synagogenbau in Amerika. Er plante sogar ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus (das Denkmal war geplant für die sechs Millionen Juden Europas) in New York, das aber nie realisiert wurde. Am 15. September 1953 starb Erich Mendelsohn im Alter von 66 Jahren in San Francisco. Der umfangreiche Nachlass Mendelsohns liegt in der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin: nahezu alle Handskizzen (jedenfalls alle, die er besaß), seine Vortragsmanuskripte, Originalabzüge der Fotos seiner Bauten, sein schriftlicher Nachlass (darunter die Briefe an seine Frau, an Freunde und Kollegen) und die Diasammlung. Aus dem Nachlass seiner Witwe Louise, der später auf dem Markt kam, hat die Kunstbibliothek damals leider nur die Modelle gekauft, nicht aber ihre Briefe an Erich, ihren schriftlichen Nachlass und die privaten Fotoalben. Diese Objekte gingen dann ans Getty Research Institute in Los Angeles.
In Berlin baute Erich Mendelsohn folgende Objekte:
- Umbau des Verwaltungsgebäudes der Hausleben-Versicherung, 1920
- Doppelvilla am Karolingerplatz, 1921-1922
- Umbau und Erweiterung des Verlagshauses Rudolf Mosse, 1921-1923
- Villa Dr. Sternefeld, 1923-1924 vier Einfamilienhäuser in Wilmersdorf, 1923
- Pelzhaus C.A. Herpich & Söhne, 1924-1929
- Landhaus Dr. Bejach, 1926-1927 Deukon-Haus in Kreuzberg, 1927
- Wohn- und Geschäftskomplex WOGA, heute Schaubühne am Lehniner Platz, 1927-1931
- eigenes Wohnhaus am Rupenhorn, 1928-1930
- Haus des Deutschen Metallarbeiterverbandes, 1929-1930
- Columbus-Haus am Potsdamer Platz als Kaufhaus für „Galeries Lafayette“, 1928-1932;
1933 bricht die Bautätigkeit in Deutschland ab.
Folgende Synagogenbauten wurden von ihm errichtet:
- Loge zu den Drei Erzvätern, Tilsit, 1925-1926
- Jüdischer Friedhof, Königsberg, Ostpreußen, 1927-1929
- Congregation B’Nai Amoona, University City, Missouri, 1945
- Synagoge B‘Nai Amoona, St. Louis, Missouri, 1946-1950
- Park-Synagoge, Cleveland, Ohio, 1946-1952
- Beth-El-Synagoge, Baltimore, Maryland, 1948
- Emanu-El-Synagoge, Grand Rapids, Michigan, 1948-1954
- Emanu-El Synagoge, Dallas, Texas, 1951
- Mount-Zion-Synagoge, St. Paul, Minnesota, 1950-1954
- Synagoge Miami, Florida, 1952.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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