Rahel Varnhagen – eine "falsch Geborene"?
von Christoph Hamann
Heute wäre Rahel Varnhagen vielleicht eine Moderatorin, die im Fernsehen Gesprächsrunden leitet. Denn sie „muss ein Geselligkeitsgenie gewesen sein“ (Carola Stern), die Menschen zuhörte, sie miteinander ins Gespräch brachte, selbst gebildet war und äußerst anregend und witzig sein konnte.
Arbeitsanregungen
Heinrich Heine* nannte sie die „geistreichste Frau des Universums“ und der Schriftsteller Franz Grillparzer* berichtete (1826): „Ich war verzaubert. Meine Müdigkeit verflog oder machte vielmehr einer Trunkenheit Platz. Sie sprach bis gegen Mitternacht [...] Ich habe nie in meinem Leben interessanter und besser reden gehört.“
Der Prinz Louis Ferdinand* charakterisierte sie als eine „Geburtshelferin von Gedanken“. Sie liebte den Austausch mit anderen Menschen – ob mündlich oder schriftlich. Die Gesprächsrunden in ihren Salons in Berlin waren berühmt und sind bis heute bekannt. Ebenso gerühmt wird sie für ihre über 10 000 geistreichen und eigenwilligen Briefe, die sie im Laufe ihres Lebens an ungefähr 300 Briefpartner schrieb. Sie war ein Mittelpunkt und dennoch zugleich eine Außenseiterin. Denn um 1800 galten andere Gesetze als im Medienzeitalter des 21. Jahrhunderts.
Rahels Salon
Rahel wurde 1771 als ältestes Kind des jüdischen Kaufmanns und Juweliers Markus Lewin (1723-1790) und seiner Frau Chaie (gest. 1809) in Berlin geboren. Eine höhere Schulbildung erhielt sie nicht, diese war ihr als Mädchen verschlossen. Sie selbst schrieb über ihre Jugend: „Mir wurde nichts gelehrt; ich bin wie in einem Walde von Menschen erwachsen.“ Ihre gesamte Bildung erarbeitete sie sich selbst. Nach dem Tode ihres Vaters gewann Rahel, auch wenn sie das väterliche Geschäft nicht leiten durfte, in der Familie dennoch eine hervorgehobene Stellung.
Sie begann ab 1793 in ihrem Salon in der Berliner Jägerstraße 54 (Gedenktafel)*, nahe dem Gendarmenmarkt, Intellektuelle, Adlige und Künstler jüdischer und christlicher Herkunft sowie unterschiedlichster Interessen und Überzeugungen zu empfangen. Es trafen sich dort zum Beispiel die Schriftsteller Achim von Arnim*, Clemens Brentano* und Jean Paul*, der Bildhauer Friedrich Tieck* und sein Bruder, der Schriftsteller Ludwig Tieck*, die Brüder Alexander* und Wilhelm von Humboldt*, der Theologe Friedrich Schleiermacher*, die Schauspielerinnen Friederike Unzelmann* und Pauline Wiesel* sowie deren schon erwähnter Liebhaber, der Prinz Louis Ferdinand. Zusammenkünfte verschiedener Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und verschiedenen Religionen waren um 1800 nicht selbstverständlich. Die Rangordnung der Feudalgesellschaft brachte es mit sich, dass der Adel und das Bürgertum jeweils unter sich blieben. Juden hatten zudem in aller Regel den Status des Außenseiters (wie auch die Künstler) und wurden diskriminiert oder allenfalls toleriert. In Rahels Salon aber wurden diese gesellschaftlichen Aus- sowie Abgrenzungen und Hierarchien aufgehoben. Im Mittelpunkt standen die Geselligkeit und derjenige, der gebildet und geistreich war sowie die anderen amüsieren konnte. In der Jägerstraße trafen sich Gleiche unter Gleichen jenseits gesellschaftlicher Rangordnung. Insofern war Rahels Dachstube ein demokratischer Ort zu Zeiten, als es die Demokratie in Deutschland noch nicht gab. Dies galt jedoch tatsächlich nur für den Salon.
Außerhalb ihrer Wohnung blieb der „Menschenmagnet“ (Rahel über sich) weitgehend ausgegrenzt. Die Häuser der meisten ihrer Gäste blieben ihr als Jüdin verschlossen. Niemand lud die lange alleinstehende Frau ein, und kein Adliger hätte sie als Bürgerliche und Jüdin zu sich eingeladen.
Hochzeit als Ausweg?
Rahel litt unter diesem Zustand, sie sah sich als eine „falsch Geborene“ und strebte immerzu aus dem Judentum heraus. Die Gelegenheit dazu würde eine Heirat bieten. Doch die Liebesbeziehung mit dem Grafen Karl von Finkelnstein scheiterte 1800 nach mehrjähriger Verlobung ebenso wie 1804 die mit dem spanischen Legationssekretär Don Raphael d’Urquio. Mit der Niederlage Preußens im Krieg gegen Frankreich 1806 und dem Einzug Napoleons in Berlin kam das gesellschaftliche Leben in Preußens Hauptstadt Berlin zum Erliegen, und Rahels Salon löste sich auf.
In der Folge entwickelte sich bei den Menschen in den deutschen Ländern (auch in Abgrenzung gegenüber Frankreich) zunehmend ein Nationalbewusstsein. Damit einher lebten antijüdische Haltungen wieder auf – Juden galten vielfach wieder als Fremdkörper. So gründete Achim von Arnim mit der Christlich Deutschen Tischgesellschaft einen literarischen Verein, bei dem Franzosen, Philister und Juden ausgeschlossen waren. Für Clemens Brentano waren die Juden von „den ägyptischen Plagen übrig gebliebene Fliegen“, und Caroline von Humboldt betonte, wenn sie etwas zu sagen hätte, wären „in 50 Jahren die Juden als Juden vertilgt“.
Austritt als Ausweg?
Die wirtschaftliche Krise hatte auch Einschränkungen für Rahels Familie und die Geschäfte ihrer Brüder zur Folge. Eine weitere, jedoch nur äußerliche Möglichkeit, dem Judentum zu entkommen, war der Namenswechsel. 1810 legte Rahel ihren Mädchennamen Levin ab und nannte sich fortan Rahel Robert. Die letzte Möglichkeit, der „falschen Geburt“ zu entkommen, war der Austritt aus dem Judentum. Den Anlass dazu bot 1814 ihre Vermählung mit Karl August Varnhagen von Ense. Rahel ließ sich taufen und wählte als Taufnamen Antonie Friederike. Nach Jahren in Süddeutschland zog das Ehepaar 1819 wieder nach Berlin zurück. In der Französischen Straße 20 und ab 1827 in der Mauerstraße 36 führte Rahel ihren zweiten Salon und auch hier trafen sich Menschen aus Kultur und Gesellschaft: Bettine von Arnim* zum Beispiel oder auch Heinrich Heine, der sie sehr bewunderte. Er widmete ihr den Zyklus „Die Heimkehr“ im ersten Teil seines Buches „Reisebilder“. Diese Huldigung sollte, wie Heine sagte, zeigen, dass ich „jemandem zugehöre und immer soll auf meinem Halsbande stehen: ‚J’appartiens à Madame Varnhagen“.
Am Ende ihres Lebens versöhnte sich Rahel mit ihrer jüdischen Herkunft, ja mehr noch: „Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.“ Am 7. März 1833 starb Rahel und wurde auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof nahe dem Halleschen Tor beigesetzt. Ihr Mann, von dem Heine sagte, politisch gesehen sei Varnhagen sein „wahlverwandtester Waffenbruder“, machte sich nach ihrem Tode um die Herausgabe ihrer Schriften verdient und wurde mehr als 30 Jahre nach ihrem Tode an ihrer Seite beigesetzt.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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