„Ein Jude darf nur Juden behandeln“ – Zur Rolle der Reichsärztekammer
von Horst Zeitler
Herbert Lewin (1899-1982) war seit 1932 Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin. Als er 1932 eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und seine Habilitationsschrift einreichen wollte, verweigerte man deren Annahme, denn er war Jude. Seit 1922 war er zudem Mitglied der SPD und galt damit in nationalsozialistischen Kreisen als ein „jüdisch-bolschewistisches Subjekt“. Damit war eine berufliche und persönliche Zukunft unter dem Nationalsozialismus verbaut: Er wurde zwar 1935 Chefarzt der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Berliner Jüdischen Krankenhauses, konnte aber ab 1938 nur noch als „Krankenbehandler“ (Arzt durfte er sich nicht mehr nennen) ausschließlich jüdische Patienten medizinisch behandeln. Im Oktober 1941 wurde er mit seiner Frau ins Ghetto Lodz deportiert. Seine Frau überlebte die Deportation nicht.
Nach 1945 konnte Herbert Lewin in der Bundesrepublik schließlich die lang ersehnte wissenschaftliche Laufbahn einschlagen, erfuhr aber auch hier extreme Anfeindungen, als er 1950 die Stelle als Chefarzt der Städtischen Frauenklinik in Offenbach übernehmen wollte: Gemeinderatsmitglieder, Ärzte, Krankenschwestern und der Bürgermeister lehnten die Berufung des Frauenarztes mit der Begründung ab, er könnte als ehemaliger Häftling eines Konzentrationslagers seine Rachegelüste an den Frauen auslassen. Erst nach weltweitem Protest konnte er die Stelle des Chefarztes antreten.
Arbeitsanregungen
Herbert Lewins Lebenslauf ist exemplarisch für das Schicksal vieler jüdischer Ärzte im Nationalsozialismus. Der Arztberuf war ein „typischer Aufsteigerberuf für jüdische Deutsche“ (Rebecca Schwoch). Da jüdischen Bürgern trotz der seit 1871 geltenden rechtlichen Gleichstellung der Zugang zu öffentlichen Ämtern meist verwehrt war, suchte man in sozial angesehenen Berufen, wie z. B. als Arzt, nach Anerkennung und beruflichen Aufstiegschancen.
Nachdem mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung allen Arbeitnehmern eine Arztbehandlung möglich war, vergrößerte sich der Kundenkreis ernorm. Von Privatpatienten abgesehen konnte man sich aber seine Kunden nicht mehr aussuchen. Dies minderte das soziale Prestige der Kassenärzte. Die Sozialversicherungen verwalteten die eingenommenen Gelder in Eigenverantwortung. Diese Organisationsform war stark sozialdemokratisch orientiert. Den Kassenärzten hing damit der Geruch von „Fabrikmedizinern“ an. Als „Kassenlöwen“ wurden sie in die linke Ecke gedrängt und schließlich von standesbewussten Kollegen mit Vorwürfen angegriffen, sie seien habgierig und „marxistisch-jüdisch“. Ein Großteil der organisierten Ärzteschaft in der Weimarer Republik war konservativ, nationaldeutsch eingestellt und lehnte die Weimarer Republik ab. Der von ihr empfundene Verlust des beruflichen Ansehens, die Abhängigkeit von den Krankenkassen und das Gefühl, damit eher als Gewerbetreibender, denn als Freiberufler betrachtet zu werden, waren ein Nährboden für nationalsozialistisches Gedankengut.
Die „ideologische Gleichschaltung“ war somit schon vor 1933 in der organisierten Ärzteschaft erfolgt. Die politische Gleichschaltung konnte sich umso leichter mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten vollziehen:
- Im März 1933 mussten aus den Vorständen und Ausschüssen des Deutschen Ärztevereinsbundes und des Hartmannbundes, den beiden großen medizinischen Standesorganisationen, alle jüdischen Mitglieder ausscheiden. Wenige Monate später veranlassten die Privatkassen, dass Behandlungen von Nichtjuden durch jüdische Mediziner nicht mehr erstattet wurden.
- Das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933“ vertrieb alle Juden aus dem Staatsdienst und damit auch aus medizinischen Behörden, Instituten und Lehranstalten. Im August wurde die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) gegründet, die die Standesverbände ablöste und ab nun der alleinige Vertragspartner der Krankenkassen war.
- Eine Hauptaufgabe der KVD war die Kassenzulassung für Ärzte. Ab Mai 1934 wurden „nicht arischen“ Ärzten bzw. Ärzten mit „nicht arischen“ Ehepartnern sowie Ärzten, die „nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten“, und darüber hinaus auch allen verheirateten weiblichen Ärzten, deren Berufstätigkeit nicht dringend notwendig war, die Kassenzulassung verweigert.
- Ab 1936 übernahm die Reichsärztekammer in der Lindenstraße 42 weite Teile der Aufgaben der Ärztekammer. In ihre Zuständigkeit fiel auch die 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1938, die ein letzter Schlag gegen die jüdische Ärzteschaft war. Dort wurde das Berufsverbot für jüdische Ärzte gesetzlich festgelegt. Die Reichsärztekammer konnte Ausnahmen zulassen, die aber mit der Auflage verbunden waren, dass der „Krankenbehandler“ – wie jüdische Ärzte sich nun zu nennen hatten – nur seine Familie und Juden medizinisch betreuen durfte. Mit dem Verbot zur Berufsausübung war auch die Kündigung aller Praxisräume gemäß dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 verbunden.
Mitte 1938 war die Ausschaltung jüdischer Ärzte aus dem Gesundheitswesen abgeschlossen. Für das Gesundheitswesen hatte diese Vertreibung katastrophale Folgen. In Berlin arbeiteten 1933 ca. 6500 Ärzte. Die Hälfte davon waren Juden. Besonders viele waren als Kassenärzte zugelassen, nämlich ca. 2000. Ab 1934 durfte ein Großteil dieser Kassenärzte nicht mehr arbeiten. Mit dem Entzug der Approbation, d. h. der Zulassung als Arzt, sank 1938 die Zahl der jüdischen Ärzte insgesamt in Berlin auf gerade einmal 279! Das hat zu einer erheblichen medizinischen Unterversorgung der Bevölkerung geführt. Welche exakten Auswirkungen die Ausschaltung der jüdischen Ärzteschaft hatte, muss von der Wissenschaft noch genauer untersucht werden.
Für die betroffenen Ärzte und ihre Familien sind die Folgen bekannt: Sie gingen in die Emigration, verübten Selbstmord oder wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Nur in Ausnahmefällen überlebten jüdische Ärzte die Schreckensherrschaft im Deutschen Reich. Der Ort, an dem über das Schicksal jüdischer Mediziner entschieden wurde, war die Reichsärztekammer in der Lindenstraße 42. Als Chef dieser Behörde war der Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900-1945) verantwortlich für die Vertreibung jüdischer Ärzte, mitverantwortlich für Zwangssterilisationen und Euthanasie, Beteiligung an Menschenversuchen usw. Seiner Verantwortung entzog er sich 1945 durch Selbstmord in alliierter Untersuchungshaft.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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