Das Israelitische Familienblatt zwischen Selbsttäuschung und Selbstbehauptung
von Moritz Felgner
In der Lindenstraße 69 befand sich seit 1902 ein vierstöckiges Fabrik- und Geschäftshaus, das über viele Jahre Verlags- und Druckereibetriebe beherbergte, so z. B. die Zeitung der SPD, den Vorwärts, der 1914 in die Lindenstraße 3 umzog. Im April 1935 mietete die „Buchdruckerei und Verlagsanstalt Max Lessmann“ große Teile des zweiten Stockwerks. Fortan wurde hier eine jüdische Zeitung, das Israelitische Familienblatt, hergestellt.
Entstehung des Israelitischen Familienblattes
Der Verleger Max Lessmann brachte das wöchentlich erscheinende Blatt seit 1898 in Hamburg heraus. Er versuchte, mit der zunächst keiner jüdischen Organisation angehörenden Zeitung zwischen den ideologischen Strömungen im deutschen Judentum zu vermitteln. Er hielt sich aus den Auseinandersetzungen um Assimilation* und Zionismus*, die zwischen der Jüdischen Rundschau (Zionistische Vereinigung*) und in der C.V.-Zeitung (Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens*) geführt wurden, weitgehend heraus. Stattdessen orientierte sich das Israelitische Familienblatt am Geschmack des breiten Publikums mit Nachrichten aus dem jüdischen Gemeindeleben, Berichten über jüdische Persönlichkeiten und auch mit „Blättern für Erziehung und Unterricht“. Mit dem aufkeimenden Antisemitismus* im wilhelminischen Deutschland* nach 1870/71 gewann das jüdische Familienleben als Schutzraum zunehmend an Bedeutung. Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus dem Hamburger Lokalblatt eine überregionale Zeitung mit eigenen Ausgaben für Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main und das übrige Reichsgebiet, sodass es seit 1933 von jeder vierten jüdischen Familie in Deutschland abonniert wurde.
Arbeitsanregungen
Zionismus und Assimilation
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Juden in Deutschland von zwei wesentlichen Strömungen geprägt. Zum einen entstand seit 1896, dem Erscheinungsjahr von Theodor Herzls „Der Judenstaat“, die jüdische Nationalbewegung des Zionismus, die den jahrtausendealten Traum der Juden nach Rückkehr ins „gelobte Land“ aufgriffen hat. Die neuzeitlichen Zionisten strebten die Gründung eines eigenen Staates in Palästina an, in dem die Juden nach ihren eigenen kulturellen und religiösen Vorstellungen leben konnten. Andere Kreise der deutschen Juden vertraten dagegen die Auffassung, die Juden müssten sich an die Gewohnheiten und Bräuche ihrer nicht jüdischen Umgebung anpassen, sie müssten sich assimilieren.
Die zionistischen Bewegungen führten auch zu einer regen Gründungstätigkeit von Vereinen und Zeitschriften, wie z. B. die Israelitische Wochenschrift. Ein Wegweiser für den kulturellen Aufbruch war die Zeitschrift Ost und West. Die Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum – so der Untertitel der Zeitschrift – hatte es sich laut Erstausgabe aus dem Jahr 1901 zur Aufgabe gemacht, „die kulturell auf verschiedenem Boden stehenden Elemente des Judentums einander wieder näher zu bringen, durch Hervorhebung alles dessen, was uns eint oder einen kann, durch einen Hinweis auf die gemeinsame Vergangenheit und besonders durch den Hinweis auf die heutigen Bestrebungen und Leistungen der Juden.“
Drei der Mitherausgeber von Ost und West, Martin Buber*, Ephraim Mose Lilien und Davis Trietsch, gehörten 1902 zu den Gründern des Jüdischen Verlages, dessen Ziel es war, „ein Stück jüdischer Kulturarbeit“ zu leisten. Dies weist darauf hin, dass deutsche Juden als Künstler, Politiker, Musiker, Regisseure und Schauspieler am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in der deutschen Gesellschaft fest integriert waren und das deutsche Kulturleben bis 1933 prägten – zu diesen gehörten zum Beispiel die Schriftsteller Alfred Döblin* und Kurt Tucholsky*, der Komponist Kurt Weill* sowie die Theater- und Filmregisseure Max Reinhardt* und Fritz Lang*. Daneben gab es auch eine sehr lebendige Kultur von Juden für Juden und eine Vielzahl von Neugründungen jüdischer Vereine und Schulen.
Im Israelitischen Familienblatt nahmen Bildungs- und Erziehungsthemen einen breiten Raum ein, u. a. in der Rubrik „Schule und Haus“. Ein redaktioneller Schwerpunkt lag in der Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zur jüdischen Gemeinschaft und in der Vermittlung einer positiven jüdischen Identität. Es wurden pädagogische Bücher vorgestellt und wurde über die Entwicklung jüdischer Kultur und Wissenschaften berichtet. Zu der Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin im Januar 1933 heißt es: „Die Jüdische Gemeinde kann stolz auf dieses Kulturwerk sein, das in seiner Art einzigartig ist, in weitesten Kreisen Interesse und auch im In- und Ausland Beachtung finden wird. [...] Zum erstenmal versucht eine jüdische Sammlung einen Überblick über das gesamte künstlerische und kulturelle Schaffen der Juden von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage zu geben.“
(In diesem Zusammenhang sei auf das heutige Jüdische Museum in der Lindenstraße verwiesen. Der Beitrag von Tanja Groenke und Etta Grotrian in Station/Kapitel 05 bzw. im Buch gibt dazu weitere Informationen.)
Das Israelitische Familienblatt seit 1933
Dem wachsenden Antisemitismus* in den 1920er-Jahren setzte sich das Israelitische Familienblatt mit Aufklärungswillen entgegen. Noch im Januar 1933 wurden antisemitische Parolen und Kampagnen der Nationalsozialisten mit der Überzeugung angeprangert, dass sich das nicht jüdische Bürgertum nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließe.
So informierte ein Artikel vom 26. Januar 1933 über die neue nationalsozialistische Berufsvereinigung „Konfektion“, die einen Boykott gegen jüdische Konfektionäre inszeniere. „Christliche“ Geschäftsleute hätten sich aber dagegen verwahrt, politische Gegensätze in das Geschäftsleben hineinzutragen. Der Verfasser des Artikels kommt zu dem Schluss: „Der gesunde Sinn der deutschen Geschäftswelt wird nicht dulden, daß diese Bemühungen, Konfektion und Konfession zu vermischen, von Erfolg begleitet sein werden.“ Schon wenige Tage später wurde Adolf Hitler Reichskanzler, und es wurde deutlicher, dass sich die Minderheit der deutschen Juden nicht auf den erhofften Rückhalt der nicht jüdischen deutschen Mehrheit stützen konnte.
Das Familienblatt kommentierte in seiner Ausgabe vom 2. Februar 1933 die Bildung der neuen Reichsregierung unter Hitler: „Es fällt vorerst schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß an der Spitze der neuen Regierung eine Persönlichkeit steht, deren Partei bisher im Kampf gegen das Judentum eines ihrer Hauptziele gesehen hat. Aber die führenden Persönlichkeiten der Nationalsozialisten haben jetzt verantwortliche Regierungspolitik zu treiben, und nach Sinn und Wesen einer solchen Politik wird man das neue Kabinett beurteilen müssen.“
(Siehe hierzu den Artikel „Das alte Berliner Zeitungsviertel“ mit seinen Quellen: Kommentare der verschiedenen Zeitungen zur sog. Machtergreifung)
In den ersten Wochen nach Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 konnte es tatsächlich so erscheinen, als sei die antijüdische Agitation in den Hintergrund getreten. Das Hauptinteresse Hitlers galt zunächst der Ausschaltung der politischen Linken, z. B. SPD und KPD, hinter denen sich nach seiner Überzeugung eine „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ verbarg. Nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 gaben die Nationalsozialisten ihre Zurückhaltung auf. Bereits einen Tag später wurde ein Einwanderungsstopp für Juden aus den osteuropäischen Ländern verhängt. Gewalttätige Ausschreitungen der nationalsozialistischen Basis gipfelten am 1. April 1933 zu einem zentral organisierten Boykott gegen jüdische Geschäfte. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 zielte darauf, jüdische und politisch unerwünschte Beamte auszuschalten. Dazu gehörten auch die Zulassungsverweigerungen für Rechtsanwälte, Kassenärzte und Hochschullehrer jüdischer Religionszugehörigkeit.
Infolge der Übertragung der Macht an die Nationalsozialisten und deren judenfeindlicher Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik verfolgte das Israelitische Familienblatt neue Ziele. Es ging nun in erster Linie darum, unter Leitung der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ eine „aktionsfähige Notgemeinschaft“ zusammenzuschweißen. Die am 17. September 1933 gegründete „Reichsvertretung der deutschen Juden“* mit Sitz in Berlin sollte als Dachverband der jüdischen Organisationen und israelitischen Landesverbände die politische Vertretung der deutschen Juden gegenüber den Regierungsbehörden übernehmen und die Interessen der Minderheit der deutschen Juden vertreten. Die Aufgaben der Reichsvertretung bestanden hauptsächlich in der Koordination und Unterstützung der jüdischen Selbsthilfe, die als Reaktion auf die antisemitische Politik des NS-Regimes entstand. Neben der Wirtschaftshilfe und der Wohlfahrtspflege kümmerte sie sich um das jüdische Schul- und Bildungswesen, die Berufsfürsorge sowie um die jüdische Auswanderung.
Am 1. April 1935 verlegte das Israelitische Familienblatt seinen Sitz nach Berlin in die Lindenstraße, „dort, wo der Puls des deutschen Judentums am hörbarsten schlägt, dort, wo ein Drittel unserer schicksalsverbundenen Gemeinschaft lebt, sich müht, bangt und hofft.“ Es erschienen regelmäßige Beilagen u. a. zu den Themen „Jugend und Schule“, „Wirtschaft und Recht“ sowie im Anzeigenteil Hinweise auf Möglichkeiten der Umschulung, auf Sprachkurse und Spediteure. Berichte aus aller Welt informierten über das Leben im Ausland, insbesondere in Palästina*. Die Artikelserie „Deutscher Jude – wohin!“ setzte sich mit den Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine Auswanderung auseinander. Als Folge der Ausgrenzung jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus dem gesamten gesellschaftlichen Leben hatte sich seit Mitte der 1930er-Jahre eine spezifisch jüdische bildungsbürgerliche Kultur herausgebildet, der sich auch viele deutsche Juden anschlossen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt mehr als Deutsche denn als Juden verstanden.
Die Hoffnung vieler Juden, die Nationalsozialisten in der Regierung würden sich an die Einhaltung der bürgerlichen Gesetze und Rechte der Weimarer Verfassung gebunden sehen, erfüllte sich nicht. Nach dem Novemberpogrom 1938 begann die systematische Ausbeutung der Juden. Ihr Vermögen wurde vom Staat eingezogen, jüdische Unternehmen wurden „arisiert“, alle jüdischen Zeitungen in Deutschland wurden verboten. So erschien die letzte Ausgabe des Israelitischen Familienblattes am 3. November 1938. Sowohl die Druckerei Lessmann als auch das Haus Lindenstraße 69 gingen 1939 in den Besitz nichtjüdischer Firmen über. Von nun an ist hier bis 1943 das Jüdische Nachrichtenblatt gedruckt worden. Dieses Blatt wurde von der Gestapo überwacht und hatte von ihr die perfide Aufgabe, die Juden über die zahlreichen behördlichen Bestimmungen und die damit verbundenen Diskriminierungen zu informieren.
Am 30. April 1943 wurde den deutschen Juden generell die Staatsbürgerschaft aberkannt. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits längst in den Vernichtungslagern in unsagbarem Ausmaß die deutsche Mordmaschinerie. Ihrem antisemitistischen Rassenwahn fielen Millionen Menschen zum Opfer. Der Holocaust vernichtete zugleich eine deutsch-jüdische Kultur, die, wenn wir z. B. an die Lindenstraße in Berlin denken, heute nicht mehr rekonstruierbar ist, deren Erbe aber bis heute nachwirkt und die sich an vielen Orten wieder neu entwickelt.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
Der Bildungsserver Berlin-Brandenburg ist ein Service des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Berlin) und des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg.