
Quelle 1: Über die Stellung der Familie Levin im Berliner Judentum
Die Levins gehörten also zu den etwa vier- bis fünfhundert reichen jüdischen Familien Berlins, die um 1800 ein bis zwei Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung Preußens ausmachten. Der wirtschaftliche Abstand zwischen diesen und der großen Mehrheit war erheblich. Die Mehrheit setzte sich zusammen aus der aus Handwerkern, Rabbinern und Gemeindeangestellten bestehenden Mittelschicht, den Kleinhändlern (40 Prozent), den Hausangestellten und Hausierern (20 Prozent) und den Betteljuden (30 Prozent). Im Vergleich zu den christlichen Staatsbürgern waren die Juden allgemein weniger wohlhabend. Nimmt man die kleine Oberschicht der reichen Juden aus, standen laut Angaben (1815; C.H.) die oberen 50 Prozent wirtschaftlich der ‚minder wohlhabenden christlichen Handwerkerklasse’ gleich, während die unteren 50 Prozent ‚arm’ und ‚ganz arm’ waren. Schutzbriefe und Privilegien bestimmten die Rechte und Bedingungen der Niederlassung der wohlhabenden Juden und verbesserten ihre Lage gegenüber den ärmeren Glaubensgenossen beträchtlich. Doch sie befreiten sie nicht von einer Unzahl Einschränkungen und Abgaben, die im krassen Gegensatz zu den Bedingungen der sich ebenfalls seit etwa 1670 in Berlin ansiedelnden französischen Hugenotten standen. So hatten die reichen Juden kein Staatsbürgerrecht, waren vom zünftigen Handwerk und von der Bodenbestellung sowie von allen staatlichen Ämtern ausgeschlossen. Der Schutzbrief durfte nur auf den ältesten Sohn übertragen werden [...] Töchter waren grundsätzlich von der Aufnahme in den Schutzbrief ausgeschlossen.
Zitiert aus: Thomann Tewarson 1992, S. 11f.
Quelle 2: Graf Salm über die Gesprächsrunden in der Berliner Jägerstraße
[...] man sprach vom Theater, von Fleck (dem Schauspieler) [...] von Righini, dessen Opern damals den größten Beifall hatten, von Gesellschaftssachen, von den Vorlesungen August Wilhelm Schlegel’s, denen auch Damen beiwohnten. Die kühnsten Ideen, die schärfsten Gedanken, der sinnreichste Witz, die launigsten Spiele der Einbildungskraft wurden hier an dem einfachen Faden zufälliger und gewöhnlicher Anlässe gereiht. [...] (Wenn Schack; C. H.) leicht erzählend, manche Personen, die durch Rang und Weltstellung bedeutend waren, in pikanter Weise schilderte [...], so waren VertrautheitundÜbersichtunverkennbar,mitdenenereine unendliche Erfahrung großweltlichen Lebens spielend behandelte. Die Heiterkeit und Laune der Mad. Unzelmann wirkten unaufhörlich belebend ein. Ludwig Robert (Rahels Bruder; C. H.) und Brinckmann erwiesen sich als ächte Gesellschaftskinder. Alle waren auf natürliche Weise thätig, und doch keiner aufdringlich, man schien eben so gern zu hören als zu sprechen. Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen! Man vermochte ihrer Munterkeit nicht zu widerstehen. Und was sagte sie alles! Ich fühlte mich wie im Wirbel herumgedreht, und konnte nicht mehr unterscheiden, was in ihren wunderbaren, unerwarteten Äußerungen Witz, Tiefsinn, Gutdenken, Genie oder Sonderbarkeit und Grille war. Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenigen Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren, und das innerste Herz trafen. Über Goethe sprach sie Worte der Bewunderung, die alles übertrafen, was ich je gehört hatte.
Zitiert aus: Thomann Tewarson 1992, S. 32f.
Quelle 3: Rahel Varnhagen über die Judenfeindschaft I
Ich bin gränzenlos traurig und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener thun. Behalten wollen sie sie; aber zum Peinigen und Verachten; zum Judenmauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fussstoss, und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist’s die verwerfliche, gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum herzlosen Schrek.
Zitiert aus: Stern 1997, 230f. (Rechtschreibung im Original)
Quelle 4: Karl August von Varnhagen über die Judenfeindschaft II
Hier sollte gestern ein Stück gegen die Juden, ‚Unser Verkehr’ betitelt, erscheinen, der Staatskanzler (Fürst Hardenberg; C. H.) wurde aber sehr böse und verbot die Aufführung, zuletzt mit eifriger Heftigkeit, weil Graf Brühl sich nicht gleich wollte bedeuten lassen. Man sagte, Jacobson (der jüdische Gemeindeälteste Israel Jacobson; C. H.) sei schon früh morgens deshalb zum Staatskanzler gefahren, gewiß ist aber, daß dieser, Stägemann (Staatsrat; C. H.) und Jordan sich aufs beste dabei benommen haben, bei Tische beim Staatskanzler wurde gesagt, der und jener Jude sei in der letzten Schlacht geblieben, andere ehrenvoll verwundet, ob das eine Zeit sei, die alten schändlichen Vorurteile zu erneuern? Darüber sind nun aber viele Leute böse, denn Judenhaß und Adelsstolz flackern nun im Verlöschen noch zu guter letzt einmal auf.
Zitiert aus: Rürup 1995, S. 90. Aus einem Brief Karl August Varnhagen von Enses an seine Frau Rahel, 3. Juli 1815. In dem antijüdischen Theaterstück „Unser Verkehr“ (1819) von Karl Sessa werden die traditionellen Juden, ihre Berufe, Redeweise und Sprache ebenso karikiert wie auch die angepasste jüdische Oberschicht. Das Verbot des Stückes wurde aufgehoben, es feierte große Publikumserfolge.
Quelle 5: Karl August von Varnhagen über die Judenfeindschaft III
Ich kenne mein Land! Leider. Eine unselige Kassandra! Seit drei Jahren sag’ ich: die Juden werden gestürmt werden; ich habe Zeugen. Dies ist der Deutsche Empörungsmuth. [...] Die gleißnerische Neu-Liebe zur christlichen Religion (Gott verzeihe mir meine Sünde!), zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dichtung und Gräueln, hetzen das Volk zu dem einzigen Gräuel, zu dem es sich noch, an alte Erlebnisse erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm. Die Insinuationen, die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen; die Professoren Fries und Rühs und wie sie heißen; Arnim, Brentano, ‚Unser Verkehr’, und noch höhere Personen mit Vorurtheilen. Es ist nicht Religionshaß; sie liebten ihre nicht, wie sollten sie andere hassen.
Zitiert aus: Rürup 1995, S. 90. Aus einem Brief Karl August Varnhagen von Enses an seine Frau Rahel, 3. Juli 1815.
Quelle 6: Carola Stern über Rahel Varnhagens Verhältnis zum vierten Stand
Doch die Verlierer dieses technischen Fortschritts, die Proletarier, gelangen nicht in Rahels Blick. Sie gehört zu jenen Anhängern Saint-Simons in Berlin, über die der Literaturwissenschaftler Werner Vortriede schreibt, sie hätten lediglichAufklärung und Nächstenliebe, soziale Gerechtigkeit im Blick gehabt und nicht erkannt, dass die Lebensbedingungen und Rechte der Arbeiter von Grund auf neu durchdacht werden mussten. Im Gegensatz zu Bettine (Bettine von Arnim; C. H.), die die Not der Ausgebeuteten, der Opfer dieser ersten industriellen Revolution erkennt und später in ‚Dies Buch gehört dem König’ öffentlich beschreiben wird, weiß Rahel nichts davon, dass Fabrikarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer Hölle gleicht und unzählige kleine Handwerker und Weber ihre Arbeitsplätze an die Industrie verlieren.
Zitiert aus: Stern 1997, S. 273.
Quelle 7: Rahel Varnhagen über ihr Leben als Frau
Wenn meine Mutter gutmühtig und hart genug gewesen wäre, und sie hätte nur ahnen können, wie ich würde, so hätte sie mich beim ersten Schrei in hiesigem Staub ersticken sollen. Ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Haus zu sitzen, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hatte, wenn es weg wollte. An die Freundin Pauline Wiesel schrieb sie: „Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft. Für uns ist kein Platz.“
(Rechtschreibung wie im Original)
Nach: www.aliceschwarzer.de/632757866348871.html – Seite existiert nicht mehr (Stand: 08.01.2009)
Quelle 8: Rahel Varnhagen über ihr Judentum (1833, kurz vor ihrem Tode)
Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! [...] Mit erhabenem Entzücken den’ ich an diesen meinem Ursprung und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechts mit der neuen Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.
Zitiert aus: Arendt 1992, S. 15.
Redaktionell verantwortlich: Dr. Uwe Besch, LISUM
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